Rz. 233
Die sozialversicherungsrechtlich fehlerhafte Behandlung von vermeintlich Solo-Selbstständigen kann den Straftatbestand der Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen gem. § 266a StGB erfüllen. § 266a StGB ist ein Sonderdelikt. Täter kann nur der Arbeitgeber sein. Den Scheinselbstständigen trifft das Strafverfahren nie.
Rz. 234
Strafbar ist gem. § 266a Abs. 1 StGB (nur) das Vorenthalten der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung. Dies bedeutet, dass bei der Beschäftigung von Scheinselbstständigen aufgrund von § 266a StGB nicht nur sozialversicherungs-, arbeits- und steuerrechtliche, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen für Arbeitgeber, wie Geschäftsführer und Vorstände, in Rede stehen können. Dies sollte durch ein frühzeitig eingerichtetes und gut funktionierendes Management Compliance System bereits im Vorfeld verhindert sein.
Rz. 235
Bei allen Varianten des § 266a StGB ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz ausreichend ist. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 und 2 StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeit- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat. Eine bloße Erkennbarkeit reicht insofern nicht aus.
Rz. 236
Praxishinweis – Änderung der BGH-Rspr. zum Tatbestandsirrtum (!)
Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest.
Rz. 237
Damit hat sich die Ansicht, wonach die Vorstellung des Arbeitgebers (Täters), der von ihm beschäftigte Geschädigte sei selbstständig tätig, sei ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum gem. § 16 Abs. 1 StGB, zu Recht durchgesetzt.
Rz. 238
Praxishinweis – "Kein Freibrief" durch die Änderung der BGH- Rspr.
1. |
Die Änderung der Rspr. des BGH sollte die Verantwortlichen nicht "zum Wegschauen" veranlassen. |
2. |
Denn ob ein Arbeitgeber seine entsprechende Stellung und das Bestehen hieraus folgender sozialversicherungsrechtlicher Abführungspflicht für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat, muss (und wird) vom Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung im Einzelfall anhand der konkreten Tatumstände geklärt werden. |
Rz. 239
Dies zeigt die Rspr. des 5. Strafsenats des BGH in einem § 266a StGB betreffenden Strafverfahren, worin der Senat ausführt:
Zitat
Vielmehr hätte der Angeklagte es in der Hand gehabt, einen (kostenlosen) Antrag nach § 7a SGB IV bei der Deutschen Rentenversicherung Bund zu stellen und auf diesem Wege, gegebenenfalls durch weitere – die Fälligkeit des Gesamtsozialversicherungsbeitrages hinausschiebende (§ 7a Abs. 6 S. 2 SGB IV a.F., ab 1.4.2022 inhaltlich unverändert § 7a Abs. 5 S. 3 SGB IV n.F.) – Anrufung der Sozialgerichte, klären zu lassen, ob eine Beschäftigung im Sinne des § 7 SGB IV vorliegt. Ungeachtet des Umstands, dass die Entscheidung im sozialversicherungsrechtlichen Anfrageverfahren und selbst eine entsprechende rechtskräftige sozialgerichtliche Entscheidung im Hinblick auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Beschäftigungsverhältnisses rechtlich keine Bindungswirkung entfaltet, hätte der Angeklagte mit der Stellung des Antrags ein Strafbarkeitsrisiko vermeiden können.“
Dies bedeutet, dass die Nichteinleitung des Statusfeststellungsverfahrens als strafrechtliches Indiz für einen bedingten Vorsatz gewertet werden kann.
Rz. 240
Der 1. Strafsenat des BGH nennt folgende konkrete Fallkonstellationen/Tatumstände:
Im Rahmen der (Beweis-) Würdigung der konkreten Tatumstände kann zunächst Bedeutung erlangen, wie eindeutig die Indizien sind, die – im Rahmen der außerstrafrechtlichen Wertung – für das Vorliegen einer Arbeitgeberstellung sprechen. Zudem kann von Relevanz sein, ob und inwieweit der Arbeitgeber im Geschäftsverkehr erfahren ist oder nicht und ob das Thema illegaler Beschäftigung in der jeweiligen Branche im gegebenen zeitlichen Kontext gegebenenfalls vermehrt Gegenstand des öffentlichen Diskurses war. Ein gewichtiges Indiz kann daneben überdies sein, ob das gewählte Geschäftsmodell von vornherein auf Verschleierung oder eine Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen ausgerichtet ist. Jedenfalls bei Kaufleuten, die als Arbeitgeber zu qualifizieren sind, sind auch die im Zusammenhang mit ihrem Gewerbe bestehenden Erkundigungspflichten in Bezug auf die arbeits- und sozialrechtliche Situation in den Blick zu nehmen, weil eine Verletzung einer Erkundigungspflicht auf die Gleichgültigkeit des Verpflichteten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht hindeute...