Rz. 150
Die Geltendmachung des Arbeitnehmerstatus durch den Solo-Selbstständigen kann an Treu und Glauben scheitern. Es verstößt allerdings grds. nicht gegen Treu und Glauben, wenn eine Partei sich nachträglich auf die Unwirksamkeit einer von ihr abgegebenen Willenserklärung beruft und ein unter ihrer Beteiligung zustande gekommenes Rechtsgeschäft angreift. Widersprüchliches Verhalten ist erst dann rechtsmissbräuchlich, wenn dadurch für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. In der Praxis wird dies vielfach zu wenig berücksichtigt. Ein Dienstnehmer handelt rechtsmissbräuchlich (§ 242 BGB), wenn er sich nachträglich darauf beruft, Arbeitnehmer gewesen zu sein, obwohl er als Freier Mitarbeiter tätig sein wollte und sich jahrelang allen Versuchen des Dienstgebers widersetzt hat, zu ihm in ein Arbeitsverhältnis zu treten. Eine Freie Mitarbeiterin verhält sich jedoch nicht widersprüchlich, wenn sie die Beschäftigung so angenommen hat, wie sie von der Beklagten angeboten wurde. Dann liegt kein treuwidriges Verhalten vor. Nimmt ein Rundfunkmitarbeiter eine Statusklage zurück, stellt es i.d.R. eine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn er sich später zur Begründung der Voraussetzungen tariflicher Unkündbarkeit darauf beruft, er sei durchgehend Arbeitnehmer gewesen.
Rz. 151
Ob allerdings nach der aktuellen Rspr. des BAG das Recht, sich auf den Bestand eines Arbeitsverhältnisses zu berufen, überhaupt materiell verwirken kann (§ 242 BGB), ist fraglich. Bisher hatte das BAG diese Frage noch nicht zu entscheiden, da in den streitigen Fällen die Voraussetzungen nicht vorlagen. Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung und soll dem Bedürfnis nach Rechtsklarheit dienen. Sie verfolgt nicht den Zweck, Schuldner, denen gegenüber Gläubiger ihre Rechte längere Zeit nicht geltend gemacht haben, von ihrer Pflicht zur Leistung vorzeitig zu befreien. Deshalb kann allein der Zeitablauf die Verwirkung eines Rechts nicht rechtfertigen (Zeitmoment). Es müssen vielmehr besondere Umstände sowohl im Verhalten des Berechtigten als auch des Verpflichteten hinzutreten (Umstandsmoment), die es rechtfertigen, die spätere Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben unvereinbar anzusehen. Der Berechtigte muss unter solchen Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckt haben, dass er sein Recht nicht mehr wahrnehmen wolle, sodass sich der Verpflichtete darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. Die etwaige materielle Verwirkung des Rechts des Berufens auf den Bestand eines Arbeitsverhältnisses ist nicht zu verwechseln mit der etwaigen Verwirkung des Rechts zur Klageerhebung mit der Rechtsfolge der Unzulässigkeit der Klage.
Rz. 152
Erklärt ein Arbeitnehmer nach rechtskräftigem Obsiegen in einem Statusverfahren, er wolle wegen der höheren Honorare in Zukunft weiter als Freier Mitarbeiter/Solo-Selbstständiger und nicht als Arbeitnehmer behandelt werden, verbieten es ihm Treu und Glauben, nach weiterer zehnjähriger Abrechnung der Leistungen auf Honorarbasis, sich für die Vergangenheit auf den Arbeitnehmerstatus und damit auf den Schutz des KSchG zu berufen. Für die Zukunft ist die Berufung auf den Arbeitnehmerstatus im Zweifel möglich.
Rz. 153
Schließt ein Dienstnehmer, dessen Vertragsverhältnis bisher als Solo-Selbstständigkeit behandelt wurde, auf seinen Wunsch hin mit seinem Dienstgeber ohne Vorbehalt einen Arbeitsvertrag, nach dessen Inhalt ein Arbeitsverhältnis erst begründet werden soll – und zwar ex nunc (Neueinstellungsvertrag mit Probezeit, Beginn der "Betriebszugehörigkeit" ab Einstellungstermin) –, vereinbart er damit grds. auch, dass die in Selbstständigkeit zurückgelegte Zeit nicht als Arbeitsverhältnis gewertet werden soll – auch soweit die Entstehung oder Anwachsung von Rechten aus der betrieblichen Altersversorgung davon abhängig sein sollte. Eine solche Vereinbarung für zurückliegende Zeit ist grds. zulässig; § 4 Abs. 4 TVG steht dem nicht entgegen.
Rz. 154
Auch der Anspruch auf Erteilung eines qualifizierten Zeugnisses unterliegt, wie jeder schuldrechtliche Anspruch, bei widersprüchlichem Verhalten der Verwirkung. Hat der Kläger zunächst nach Beendigung des Vertragsverhältnisses etwa über ein Jahr lang nichts von sich hören lassen, dann in einem Schreiben mit der Behauptung, Arbeitnehmer gewesen zu sein, für den "Beiträge zu den Sozialversicherungen zu entrichten sind", unter ausdrücklichem Vorbehalt "eine Klage zum zuständigen Arbeitsgericht und Sozialgericht" zu erheben, außergerichtlich restliche Zahlungsansprüche geltend gemacht, diese dann aber gleichwohl vor den Zivilgerichten einklagt, setzt sich zu seinem vorangegangenen Tun in Widerspruch, wenn er sich plötzlich auf den Standpunkt stellt, nicht Subunternehmer, sondern Arbeitnehmer gewesen zu sein und deshalb einen Zeugnisanspruch zu haben, nachdem er zuvor vor ...