a) Auslegungsregel (§ 2108 Abs. 2 BGB)
Rz. 91
Das Anwartschaftsrecht des Nacherben ist, sofern der Erblasser nichts Gegenteiliges verfügt hat – was sich, wie stets bei Testamenten, auch aus der ergänzenden Testamentsauslegung ergeben kann –, vererblich. § 2108 Abs. 2 BGB ist eine Auslegungsregel. Hat der Erblasser den Wegfall des Nacherben zwischen Erb- und Nacherbfall nicht in Erwägung gezogen, so treten an die Stelle des Nacherben dessen Erben, wobei es unerheblich ist, ob sie gesetzliche oder gewillkürte Erben sind. Der Erblasser kann die Vererblichkeit des Anwartschaftsrechts grundsätzlich ausschließen, sodass der Vorerbe mit dem Tod des Nacherben bzw. der Unerreichbarkeit des Eintritts der Nacherbfolge zum Vollerben wird.
Rz. 92
Sauber abzugrenzen sind Fälle, in denen der Erblasser einen Nachnacherben – Stichwort "Nacherbenkette": Der Nacherbe ist gleichzeitig Vorerbe des Nachnacherben – oder Ersatznacherben – der Ersatznacherbe wird nur Nacherbe, wenn der Nacherbe wegfällt – einsetzt. Dies ist vor allem zu prüfen, wenn der Nacherbe zwischen Erbfall und Nacherbfall stirbt. Schließt der Ersatznacherbe den Erwerb des Anwartschaftsrechts der Erben des Nacherben aus? Ist eine "zweifelsfreie" Ersatznacherbeneinsetzung immer als Ausschluss der Vererblichkeit anzusehen? Was, wenn der Nacherbe, Kind des Erblassers, testamentarisch seine Ehefrau als Alleinerbin eingesetzt hat, § 2069 BGB aber für den Enkel des Erblassers zu streiten scheint? Die Versuche in der Literatur, Kriterien aufzustellen, sind meist nur Hinweise zur peinlich genauen Auslegungsarbeit. Das OLG Braunschweig hat in seiner Entscheidung zur Ersatznacherbeneinsetzung wohl zutreffend darauf hingewiesen, dass die Auslegung der Einsetzung von Ersatznacherben regelmäßig auch den Fall umfasst, dass die Notwendigkeit, als Ersatz "einspringen" zu müssen, auch dadurch entsteht, dass der Nacherbe zwischen Vor- und Nacherbfall wegfällt. Die Erben des Nacherben werden schon nachweisen müssen, dass in der Vorstellungswelt des Erblassers gerade dieser Fall nicht als Ersatzfall angesehen wurde, sondern § 2108 Abs. 1 BGB gelten soll.
Rz. 93
Anders ist der Fall der Konkurrenz zwischen § 2069 und § 2108 Abs. 1 BGB zu bewerten. In den meisten Testamenten ist ein Abkömmling Nacherbe. § 2069 BGB den Vorzug zu geben, hieße, § 2108 Abs. 1 BGB den hauptsächlichen Anwendungsbereich zu entziehen. Deshalb ist bei nicht möglicher Auslegung in die eine oder andere Richtung § 2108 Abs. 1 BGB der Vorzug zu geben. Hat der Nacherbe seine Ehefrau als Alleinerbin eingesetzt, so erbt sie im Zweifel anstatt der Kinder des Nacherben. Der BGH hat jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Erblasserwillen, das Familienvermögen in seinem Stamm zu halten, exakt geprüft werden müsse.
b) Aufschiebende Bedingung
Rz. 94
Ist die Nacherbeneinsetzung unter einer aufschiebenden Bedingung nach § 2074 BGB angeordnet, gilt im Zweifel, dass bei Wegfall des Nacherben vor Bedingungseintritt kein Ersatznacherbe berufen ist. War z.B. die Bedingung, dass der Nacherbe einen bestimmten Berufsabschluss macht und stirbt er zuvor, wird im Zweifel der Vorerbe mit dem Tod des Nacherben zum Vollerben. Aufschiebend bedingte Nacherben gibt es jedoch zwangsläufig auch bei auflösend bedingten Erbeneinsetzungen nach § 2075 BGB. Dies gilt vor allem bei Wiederverheiratungsklauseln, die immer eine aufschiebend bedingte Nacherbeneinsetzung, meist der Kinder, enthalten. Stirbt der Nacherbe zwischen dem Erbfall und der Wiederheirat des Ehegatten des Erblassers, gilt nach § 2108 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 2074 BGB zwar im Zweifel, dass die Nacherbenstellung nicht vererbt werden konnte. Gerade im engsten Familienkreis greifen jedoch weitere Auslegungsregeln. Hier können §§ 2068, 2069 BGB Anwendung finden, wonach im Zweifel Abkömmlinge des vorverstorbenen Erben nachrücken.
Praxishinweis
In diesen Fällen zeigt sich die Notwendigkeit, zunächst den Willen des Erblassers sauber zu ermitteln, bevor bei der Anwendung der Auslegungsregeln die dogmatischen Streitigkeiten beginnen, die eine zielführende Beratung erschweren. In der Gestaltungsberatung gehört der Hinweis auf die Gefahren atypischer Geschehensabläufe und die Notwendigkeit, ausreichende Ersatznacherbeneinsetzungen vorzusehen, zum unverzichtbaren Instrumentarium.