I. Schriftliche Vollmacht bei den Akten
Rz. 1
Der gewählte Verteidiger, dessen schriftliche Vollmacht sich bei den Akten befindet (bzw. dem in der Hauptverhandlung Vollmacht zu Protokoll erteilt wurde), gilt kraft Gesetzes (§ 145a Abs. 2 StPO; § 51 Abs. 3 OWiG) als ermächtigt, Zustellungen und sonstige Mitteilungen (aber keine Ladungen - siehe § 3 Rdn 19) für den Beschuldigten bzw. Betroffenen entgegenzunehmen (z.B. Zustellung der Anklage, § 201 StPO, des Strafbefehles, § 407 StPO, des Hinweises nach § 72 Abs. 1 S. 2 OWiG, des Bußgeldbescheides oder des Urteils).
Rz. 2
Eine an den gewählten Verteidiger bewirkte Zustellung ist auch dann wirksam, wenn in der zu den Akten gereichten Vollmachtsurkunde die Formulierung: "Zustellungen [...] entgegenzunehmen" gestrichen ist, § 145a StPO, § 51 Abs. 3 OWiG enthält nämlich eine gesetzliche Zustellungsvollmacht, die nicht eingeschränkt werden kann (OLG Köln NZV 2004, 595; OLG Dresden DAR 2005, 572).
Rz. 3
Achtung
Die Zustellungsvollmacht besteht auch nach Beendigung des Mandates so lange fort, bis die Anzeige des Betroffenen oder des Verteidigers über das Erlöschen des Verteidigerverhältnisses zu den Akten gelangt ist (OLG Koblenz VRS 71, 203; OLG Düsseldorf StraFo 1998, 227).
II. Keine Vollmacht bei den Akten
Rz. 4
Befand sich im Zeitpunkt der Zustellung eine schriftliche Vollmacht nicht bei den Akten (und war der Verteidiger auch nicht rechtsgeschäftlich zur Empfangnahme von Zustellungen bevollmächtigt, siehe § 2 Rdn 5; OLG Braunschweig DAR 2013, 524; KG DAR 2016, 148), ist eine an den Verteidiger bewirkte Zustellung unwirksam (BayObLG DAR 2003, 380; OLG Düsseldorf DAR 2004, 41; OLG Hamm DAR 2004, 105; OLG Brandenburg zfs 2005, 571). Eine erst nach erfolgter Zustellung zu den Akten gereichte Vollmacht heilt den Mangel nicht (OLG Rostock VRS 107, 442).
Eine für das außergerichtliche Verfahren erteilte Vollmacht macht den Anwalt noch nicht zum Zustellungsbevollmächtigten kraft Gesetzes (OLG Brandenburg zfs 2005, 571), ebenso wenig wie das bloße Auftreten in der Hauptverhandlung als Verteidiger genügt (BGH NJW 1996, 406; BayObLG DAR 2003, 380).
Eine ausdrücklich (nur) für das Strafverfahren erteilte Vollmacht fingiert für das sich daran anschließende Bußgeldverfahren keine Zustellungsvollmacht (OLG Brandenburg, Urt. v. 4.12.2008 - Ss OWi 121 Z/08; OLG Zweibrücken zfs 2016, 172); das gilt erst recht für eine nur zur Regulierung zivilrechtlicher Ansprüche legitimierende (AG Berlin-Tiergarten NZV 2018, 340).
Rz. 5
Tipp: Wichtig für Fristenlauf und verjährungsunterbrechende Wirkung des BG-Bescheides
Die Frage, ob die Zustellung wirksam erfolgt ist, hat nicht nur für die Einspruchs- oder Rechtsmittelfrist Bedeutung, sondern auch für die Frage der Unterbrechungswirkung des Bußgeldbescheides (siehe unten Rdn 45 ff.).
III. Wahlrecht der zustellenden Behörde
Rz. 6
Hat der Angeklagte bzw. der Betroffene einen Verteidiger, so bestimmt § 145a Abs. 2 StPO bzw. § 51 Abs. 3 StPO das Zustellungsverfahren. Die Vorschriften ermächtigen lediglich zur Zustellung an den Verteidiger, begründen jedoch keine Rechtspflicht; es steht vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts bzw. der Behörde, ob an den Angeklagten (Betroffenen) oder seinen Verteidiger zugestellt wird (LG Berlin AnwBl 1980, 120; OLG Karlsruhe VRS 105, 348). Dies gilt auch, wenn die Zustellung an den Betroffenen gegen den ausdrücklich erklärten Wunsch des Verteidigers erfolgt (OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.3.2009 - 2 Ss 139/09; a.A. wohl OLG Köln VRS 57, 288).
IV. Benachrichtigungspflicht
Rz. 7
Zwar soll im Falle der Zustellung an den Anwalt der Mandant - und im umgekehrten Falle der Anwalt - informiert werden, dabei handelt es sich jedoch lediglich um eine Ordnungsvorschrift, die ohne Bedeutung für die Wirksamkeit der Zustellung und den Fristenlauf ist (BVerfG NJW 1978, 575; OLG Brandenburg DAR 2005, 99). Deshalb setzt alleine schon die Zustellung, z.B. des Strafbefehls oder des Bußgeldbescheides, die Einspruchsfrist auch dann in Gang, wenn die Benachrichtigungspflicht nicht erfüllt wurde.
Rz. 8
Umstritten ist, ob in Fällen unterbliebener oder verspäteter Benachrichtigung ein Wiedereinsetzungsgrund vorliegt. Dies bejahen LG Duisburg (zfs 1993, 104), LG Köln (StraFo 1998, 190), OLG Düsseldorf (NStZ 1989, 88), LG Zweibrücken (NZV 2007, 431), sowie LG Siegen (zfs 2010, 289), wobei nach OLG Brandenburg (DAR 2005, 99) Wiedereinsetzung sogar von Amts wegen zu gewähren ist, während ein anderer Senat des OLG Düsseldorf (StraFo 1997, 47) allenfalls dann einen Wiedereinsetzungsgrund annimmt, wenn der Betroffene darlegt, dass er darauf vertrauen durfte, sein Verteidiger werde auch ohne sein Zutun rechtzeitig Kenntnis von der Zustellung erhalten, während das BayObLG in einer älteren Entscheidung (NJW 1993, 150) grundsätzlich eine Wiedereinsetzung ablehnte, diese harte Linie aber wieder verlassen hat (NZV 2000, 380).
Rz. 9
Achtung
Die Zustellung an den Verteidiger ist selbst dann zulässig, wenn der Angeklagte bzw. Betroffene unbekannten Aufenthaltes ist (BGH NStZ 1991, 28).
Rz. 10
Das kann für den Verteidiger im Falle von Ladungen zum Termin oder Zustellungen, die eine Rechtsmittelfrist ...