a) Missachtung der Anzeige der Verteidigung
Rz. 72
Nicht selten werden die Anzeige der Verteidigungsbevollmächtigung und die Mitteilung, dass der Mandant bei der Polizei keine Angaben machen wird, von der Polizei missachtet. Insbesondere Mandanten, die sich in U-Haft befinden, werden von der Polizei aufgesucht und vernommen, ohne dass der Verteidiger hiervon vorab Kenntnis erhält. Dieser wird teilweise bewusst übergangen und erfährt erst im Nachhinein davon. In derartigen Fällen ist es angezeigt, unverzüglich nach Bekanntwerden des Versuchs, Auskunftsverweigerungs- bzw. Verteidigungsrechte zu hintertreiben oder den Verteidiger als solches zu übergehen, den polizeilichen Sachbearbeitern schriftsätzlich und unmissverständlich darzulegen, dass weitere Verstöße dieser Art nicht hingenommen werden und man ggf. dienstaufsichtsrechtliche Schritte ergreifen wird.
b) Verweigerung der Aktenübersendung/Spurenakten
Rz. 73
Manche Sachbearbeiter bei den Staatsanwaltschaften verweigern auch nach mehrfacher Erinnerung an den Akteneinsichtsantrag des Verteidigers diese mit dem Hinweis, die Akten befänden sich noch bei der Polizei. Dieses Verhalten ist rechtswidrig und sollte von der Verteidigung auf keinen Fall hingenommen werden. Nach § 147 Abs. 1 StPO hat der Verteidiger einen Anspruch auf unverzügliche Einsicht in die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle einer Anklageerhebung vorzulegen wären. Absatz 2 dieser Vorschrift normiert zwar eine Ausnahme, wenn der Abschluss der Ermittlungen noch nicht vermerkt ist. Von dieser Ausnahmeregelung darf die Staatsanwaltschaft aber nur Gebrauch machen, wenn die Gewährung der Akteneinsicht den Untersuchungszweck gefährden könnte. Befindet sich der Mandant in Untersuchungshaft, gelten für die Beschränkung des Akteneinsichtsrechts höhere Anforderungen. Anders ist dies, wenn der Haftbefehl noch nicht vollzogen ist. Allerdings darf auch bei einem nicht inhaftierten Beschuldigten, der von dem Haftbefehl Kenntnis erlangt hat, die Entscheidung über die Fortdauer des Haftbefehls nicht auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die der Beschuldigte infolge verweigerter Akteneinsicht nicht kennt. Nach § 147 Abs. 4 StPO steht nunmehr auch dem unverteidigten Beschuldigten unter bestimmten Voraussetzungen selbst ein Recht auf Akteneinsicht zu.
Rz. 74
Nach Abschluss der Ermittlungen müssen dem Verteidiger die Akten vollständig zur Einsicht überlassen werden. Vollständige Akteneinsicht bedeutet, dass dem Verteidiger neben beigezogenen Akten auch Gegenstände, die zu den Verfahrensakten gehören, z.B. Videokassetten, Tonbänder etc., zugänglich gemacht werden müssen. Unter den Voraussetzungen des § 147 Abs. 5 S. 2 StPO kann gegen die Versagung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft gerichtliche Entscheidung beantragt werden.
Rz. 75
Zu beachten ist, dass dem Verteidiger gem. § 147 Abs. 3 StPO die Einsicht in Protokolle über die Vernehmung des Beschuldigten, über richterliche Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger ein Anwesenheitsrecht zugestanden hätte, sowie in Sachverständigengutachten in keiner Lage des Verfahrens verweigert werden darf. Diesbezüglich besteht stets und ausnahmslos ein Anspruch auf Akteneinsicht.
Rz. 76
Hat der Mandant mehrere Verteidiger, steht jedem gesondert ein Akteneinsichtsrecht zu. Die Verteidiger müssen sich nicht darauf verweisen lassen, dass bereits der Kollege die Akten erhalten habe. Das Gleiche gilt für jeden Verteidiger der jeweiligen Mitangeklagten.
Rz. 77
Probleme bereitet stets der Antrag auf Einsichtnahme in sog. Spurenakten. Spurenakten müssen dem Verteidiger dann zur Verfügung gestellt werden, wenn sie Bestandteil der Verfahrensakten sind. Anders soll es sich bei verfahrensfremden Akten verhalten, die von der Polizei in einem bestimmten Ermittlungsverfahren zwar zusammengetragen wurden, die aber nicht den späteren Prozessgegenstand bilden. Was den späteren Prozessgegenstand bildet, liegt im Ermessen der Ermittlungsbehörden. Besonders im Laufe von Sexual- und Tötungsstrafverfahren offenbart sich nicht selten, dass zuvor gegen zahlreiche Verdächtige ermittelt wurde, etwa weil deren Fußspur oder Zigarettenmarke mit Tatortfunden übereinstimmte, deren Spurenakten aber "in einer Schublade verschwanden", weil die polizeilichen Sachbearbeiter sie nicht für prozessgegenständlich hielten.
Rz. 78
Die Akten werden dem Verteidiger – auf seine Kosten – grundsätzlich übersandt, sofern diese nicht ohnehin bereits elektronisch geführt werden, vgl. § 147 Abs. 4 StPO, Nr. 187 Abs. 2 RiStBV. Allerdings können "wichtige Gründe" einer Übersendung entgegenstehen. Als wichtiger Grund wird zum Beispiel angesehen, dass Akten als sog. Verschlusssache gekennzeichnet sind oder die Aushändigung der Akten Dritte in große Gefahr bringen würde.
Rz. 79
Der Mitteilung, die Akten befänden sich bei der Polizei und könnten deshalb nicht übersandt werden, steht auch Nr. 12 Abs. 1 RiStBV entgegen, wonach die Ermittlungsakten bei Ermittlungsersuchen an die Polizei grundsätzlich in den Händen der Staatsanwaltschaft bleiben sollen. Sind die Akten umf...