Rz. 180
Die Untersuchungshaft darf gem. § 112 Abs. 1 S. 2 StPO nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht. Die Verhältnismäßigkeit ist nach h.M. keine Haftvoraussetzung, die Unverhältnismäßigkeit ist vielmehr ein Haftausschließungsgrund. Gemäß § 120 Abs. 1 S. 1 StPO ist der bereits bestehende Haftbefehl bei Unverhältnismäßigkeit aufzuheben, wobei sich das Verhältnis mit zunehmender Haftdauer zugunsten des Inhaftierten verschiebt. Somit sind bei der Prüfung die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe gegenüber den konkreten Auswirkungen durch den Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG abzuwägen.
Rz. 181
Die Bedeutung der Sache richtet sich nach der abstrakten Rechtsfolgenandrohung, der Art des verletzten Rechtsgutes, dem konkreten Erscheinungsbild der Tat, den tatbezogenen Umständen in der Person des Beschuldigten, dessen Persönlichkeit sowie nach dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung.
Rz. 182
Eine sichere Prognose bzgl. der zu erwartenden Strafe lässt sich häufig kaum aufstellen. Daher ist eine vorsichtige Einschätzung geboten und beispielsweise eine besondere Höhe der individuellen Schuld bei der Einschätzung außer Betracht zu lassen und stattdessen der Durchschnittsfall zugrunde zu legen. Es ist dabei vom abstrakten Strafrahmen auszugehen, wobei grundsätzlich alle Strafzumessungserwägungen und auch Strafaussetzungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen sind. Des Weiteren ist ggf. die gem. § 51 Abs. 1 StGB mit anzurechnende Untersuchungshaft auf eine eventuelle Freiheitsstrafe zu berücksichtigen. Je niedriger die abstrakte Strafandrohung ist, desto eher ist die Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft anzunehmen. Das ergibt sich schon aus § 113 StPO, der die Untersuchungshaft bei leichteren Tatvorwürfen im Falle der Fluchtgefahr nur unter den strengen Voraussetzungen des Abs. 2 zulässt.
Rz. 183
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist immer der Grundsatz der Erforderlichkeit mit einzubeziehen: Existiert ein milderes Mittel, das zur Zweckerreichung genauso geeignet erscheint, dann ist dieses zwingend vorzuziehen. Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist das Institut der Haftverschonung des § 116 StPO. Übernimmt der Beschuldigte freiwillig Pflichten, oder unterwirft er sich freiwillig Beschränkungen durch welche die erstrebte Wirkung erreicht wird, ohne dass der Beschuldigte verhaftet werden muss, darf die Untersuchungshaft nicht verhängt werden. Zu den möglichen Auflagen gehört regelmäßig die Weisung, sich bei der Polizei zu melden, die Ausweispapiere abzugeben, eine Kaution als Sicherheit zu hinterlegen, den Wohn- oder Aufenthaltsort nicht zu verlassen, keine Auslandsreisen zu unternehmen oder beispielsweise zu anderen Beschuldigten oder Zeugen keinen Kontakt aufzunehmen.
Rz. 184
Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere auch die Auswirkungen auf den Beschuldigten im konkreten Einzelfall zu beachten. Die Gefährdung der beruflichen oder wirtschaftlichen Existenz, die Beeinträchtigung des gesellschaftlichen Ansehens, der Gesundheitszustand und die Beeinträchtigung der Familiensituation sind maßgebliche Kriterien. Sogar die Interessen von Arbeitnehmern, wenn deren Arbeitsplätze durch die Untersuchungshaft des Arbeitgebers gefährdet würden, können ausschlaggebend sein. Ob es angesichts des nahenden Todes gegen die Menschenwürde verstößt, wenn sich ein Beschuldigter für die ihm vorgeworfenen Straftaten vor Gericht verantworten muss, ist streitig. Ist aber der Beschuldigte verhandlungsunfähig oder lässt die Durchführung des Strafverfahrens für ihn irreparable Gesundheitsschäden oder sogar den Tod befürchten, ist jedenfalls die Anordnung der Untersuchungshaft ausgeschlossen.