1. Allgemeines zur Untersuchungshaft
Rz. 154
Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf die Untersuchungshaft nur angeordnet werden, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und auf rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch die vorläufige Inhaftierung eines Verdächtigen. Hier wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen sowie den Bedürfnissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung am deutlichsten sichtbar, zumal der Beschuldigte bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens als unschuldig gilt.
Rz. 155
Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft sind in den §§ 112 ff. StPO geregelt. Gemäß § 112 Abs. 1 StPO darf die Untersuchungshaft nur angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht und zusätzlich ein Haftgrund gegeben ist. Der dringende Tatverdacht muss auf Tatsachen beruhen und der Haftgrund sich aus bestimmten Tatsachen ergeben. Die Untersuchungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel außer Verhältnis steht, vgl. §§ 112, 114 StPO.
2. Dringender Tatverdacht
Rz. 156
Der Begriff des dringenden Tatverdachts ist schwer zu fassen und wird allgemein dann angenommen, wenn eine hohe oder große Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Bei der gerichtlichen Überprüfung im Wege der Haftprüfung, Haftbeschwerde oder weiteren Haftbeschwerde ist die jeweils aktuelle Verfahrens- und Beweislage des Einzelfalles maßgebend. Der dringende Tatverdacht kann somit im Laufe eines Verfahrens entkräftet oder weiter bestärkt werden. Der Verteidiger hat zu prüfen, ob die vorliegenden Tatsachen für die Annahme eines dringenden Tatverdachtes ausreichen, also inwiefern die dem Beschuldigten vorgeworfene Handlung unter ein Strafgesetz fällt und eine spätere Verurteilung ermöglicht (Schlüssigkeitskontrolle). Eine zweifelhafte Auslegung des StGB kann keinen dringenden Tatverdacht begründen. Genauso verhält es sich bei Tatsachen, die aufgrund prozessrechtlicher Vorschriften im Rahmen der späteren Urteilsfindung nicht verwertet werden dürfen.
Rz. 157
Ein dringender Tatverdacht kann beispielsweise nicht angenommen werden, wenn
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nur der Umstand vorliegt, dass der Beschuldigte zu der ihm vorgeworfenen Straftat schweigt oder entlastende Angaben erst nach anfänglichem Schweigen macht; |
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irreparable Fehler bei der Täteridentifizierung nachgewiesen werden können; |
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neben dem Beschuldigten eine andere Person mit derselben Wahrscheinlichkeit in Betracht kommt; |
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der entscheidende Belastungszeuge aus nicht nachvollziehbaren Gründen seine Aussage zum Vorteil bzw. zum Nachteil des Beschuldigten ändert oder Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufwirft; |
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der dringende Tatverdacht ausschließlich auf der Aussage eines gesperrten V-Mannes beruht, die nicht durch andere objektive Beweisanzeichen auf ihre Richtigkeit überprüft werden kann; |
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Widersprüche und Ungereimtheiten in den Angaben einer verdeckt vernommenen VP vorhanden sind. |
Rz. 158
Die Annahme eines dringenden Tatverdachts ist problematisch, wenn nur ein einziger Belastungszeuge vorhanden ist und deshalb eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation besteht. Basiert ein Vorwurf allein auf Indizien und kann erst nach umfangreicher Beweisaufnahme geklärt werden, ob diese Indizien für den Nachweis einer Täterschaft ausreichen, ist ein dringender Tatverdacht jedenfalls dann abzulehnen, wenn die Unstimmigkeiten ausschließlich im Rahmen der Hauptverhandlung geklärt werden können.
3. Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO
Rz. 159
Die Untersuchungshaft darf nur angeordnet werden, wenn ein Haftgrund vorliegt, der die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherstellen soll. Die in §§ 112, 112a StPO genannten Haftgründe sind abschließend. Sie dürfen nur aufgrund bestimmter Tatsachen bejaht werden. Dies hat zur Folge, dass subjektive Vermutungen des Richters als Grundlage der Haftanordnung (grundsätzlich) unzulässig sind. Als für den Haftgrund erhebliche Tatsachen kommen vor allem das Verhalten des Beschuldigten, sein Vorleben, seine persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse, sein soziales Umfeld sowie seine Beziehungen zu Dritten in Betracht. Die Mitverwertung von kriminalistischen und forensischen Erfahrungen wird allgemein als zulässig anerkannt, birgt aber insofern Probleme, als hier Intuition und ungeprüfte Alltagstheorien in die Bewertung mit einfließen.
a) Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO)
Rz. 160
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