Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 826
Für sonstige Mitbestimmungsverletzungen finden sich keine Regelungen. Die Rspr. behilft sich mit der sog. "Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung", die besagt, dass Voraussetzung für die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen des Arbeitgebers ggü. dem Arbeitnehmer nicht nur deren individualrechtliche Zulässigkeit ist, sondern dass darüber hinaus auch die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates eingehalten sein müssen. Diese Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung gilt allerdings nicht für jede Verletzung und nicht für jede arbeitsvertragliche Maßnahme (zu den dogmatischen Grundlagen vgl. Wolter, RdA 2006, 137 ff.; Gutzeit, NZA 2008, 255; Lobinger, RdA 2011, 76 ff.; mit bemerkenswertem Ansatz auch Wiebauer, RdA 2013, 364 ff.; GK/Wiese, § 87 Rn 99 ff.; Fitting, § 87, 618 ff.; DKW/Klebe, § 87 Rn 5 ff.; Richardi/Maschmann, § 87 Rn 101 ff.).
a) Verletzung des § 87 BetrVG
Rz. 827
Das BAG vertritt diese "Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung", auch "Theorie der notwendigen Mitbestimmung" genannt, jedenfalls für eine Verletzung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates nach § 87 BetrVG, darüber hinaus für die Durchführung von Versetzungen nach §§ 99, 95 Abs. 3 BetrVG. Der 2. Senat des BAG, vor allem zuständig für Kündigungen, beschränkt diese Wirkung auf einseitige Maßnahmen des Arbeitgebers, lässt die vertraglichen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hiervon unberührt.
b) Änderung des Arbeitsvertrags
Rz. 828
Für Änderungen des Arbeitsvertrags gilt diese Theorie nach der Rspr. des 2. Senats nicht. Diese sind – wie der erstmals abgeschlossene Arbeitsvertrag – demnach auch ohne Zustimmung des Betriebsrates wirksam. Soll allerdings die Vertragsänderung zu einer Änderung von Umständen führen, für deren Verwirklichung die Zustimmung des Betriebsrates erforderlich ist – etwa bei Überstunden, bei Arbeitszeitverlegungen, bei Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs für mehr als einen Monat –, dann darf diese Veränderung trotz der vertraglich vereinbarten rechtlichen Möglichkeit hierzu zunächst nicht tatsächlich durchgeführt werden. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, vor der tatsächlichen Durchführung für die Wahrung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates zu sorgen. Der Arbeitnehmer ist trotz der Vertragsänderung nicht verpflichtet, den neuen Arbeitsplatz anzutreten, bevor die hierfür gegebenen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates nicht gewahrt sind. Unabhängig hiervon hat der Betriebsrat ggf. eigene Möglichkeiten, die Unterlassung derartiger Maßnahmen des Arbeitgebers im Wege eines Unterlassungsanspruches gerichtlich aus eigenem Recht durchzusetzen. An der Wirksamkeit der arbeitsvertraglichen Vereinbarung ändert dies nichts. Erfüllt der Arbeitgeber nachträglich seine gegenüber dem Betriebsrat bestehenden Mitbestimmungspflichten, kann er ab diesem Zeitpunkt vom Arbeitnehmer die Einhaltung des Arbeitsvertrags verlangen.
c) Einstellungsvertrag
Rz. 829
Wie dargestellt gilt die Theorie nicht für die bloße Vereinbarung oder Änderung von Verträgen. Sie erfasst also nicht den Einstellungsvertrag: Der Abschluss des Vertrages ist auch ohne die Einhaltung von Mitbestimmungsrechten wirksam. Ob aus Entscheidungen des 1. Senats des BAG mit Formulierungen wie "die Vergütungsabrede gilt nicht" und "eine Maßnahme, die der notwendigen Mitbestimmung entbehrt, ist rechtswidrig und unwirksam. Dies gilt sowohl für einseitige Maßnahmen … als auch für einzelvertragliche Vereinbarungen" (BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, juris) anderes geschlossen werden kann, ist nicht abschließend geklärt (ähnlich BAG v. 22.10.2014 – 5 AZR 731/12, juris: "führt die Verletzung von Mitbestimmungsrechten im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer jedenfalls zur Unwirksamkeit von Maßnahmen und Rechtsgeschäften, die den Arbeitnehmer belasten. Dies soll verhindern, dass der Arbeitgeber dem Einigungszwang mit dem Betriebsrat durch Rückgriff auf arbeitsvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten ausweicht"; vorsichtiger jetzt BAG v. 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, juris, und BAG v. 25.4.2017 – 1 AZR 427/15, juris, und BAG v. 23.1.2018 – 1 AZR 65/17, juris: Die im Arbeitsvertrag getroffene Vereinbarung über die Vergütung "wird von Gesetzes wegen ergänzt durch die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer nach den im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsätzen zu vergüten"; von Unwirksamkeit der vertraglichen Abmachung ist hier nicht mehr die Rede).
Rz. 830
Führt ein nicht tarifgebundener Arbeitgeber ohne Beteiligung des Betriebsrats Maßnahmen durch, die eine Änderung der im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsätze bewirken (hier: Widerruf des Anspruchs auf Weihnachtsgeld für eine Arbeitnehmergruppe), dann kann ein Arbeitnehmer "in Fortführung der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung" bei einer unter Verstoß des Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG vorgenommenen Änderung der im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsätze eine Vergütung auf der Grundlage der bisherigen Entlohnungsgrundsätze fordern (BAG v. 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, juris). Soweit das BAG anführt, diese Entlohnungsgrundsätze müssten mitbestimmungsgemäß eingeführt worden...