Rz. 1003

Die Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf den übertariflichen Bestandteil der Arbeitsvergütung hat unter dem Gesichtspunkt, ob und ggf. in welchem Umfang dem Betriebsrat hierbei ein Mitbestimmungsrecht zusteht, zu zahlreichen Entscheidungen des BAG geführt. In einem Grundsatzbeschluss v. 3.12.1991 hat der Große Senat des BAG wichtige Leitlinien zu diesem Themenbereich aufgestellt (GS 2/90), die für die betriebliche Praxis im Ergebnis Folgendes beinhalten:

 

Rz. 1004

Entschließt sich der Arbeitgeber dazu, eine höhere als nach dem Tarifvertrag geschuldete Arbeitsvergütung, also über das tarifliche Mindestarbeitsentgelt hinaus "übertarifliche" oder "außertarifliche" Zulagen zu zahlen, so hat der Betriebsrat sowohl bei der Aufstellung als auch bei der Änderung der Verteilungsgrundsätze für diese Zulagen ein Mitbestimmungsrecht.

Mitbestimmungsfrei ist die Entscheidung des Arbeitgebers, ob er eine Anrechnung übertariflicher Zulagen aus Anlass von Tariflohnerhöhungen vornehmen und damit das Zulagenvolumen kürzen will.

Entschließt sich der Arbeitgeber zur Kürzung des Zulagenvolumens durch Anrechnung, so besteht das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates unabhängig davon, ob sich der Arbeitgeber im Arbeitsvertrag die Anrechnung der "übertariflichen Zulage" auf Tariferhöhungen, bzw. den Widerruf solcher Zulagen vorbehalten hat oder sich die Anrechnung zunächst automatisch vollzieht. Entscheidend für die Mitbestimmungspflichtigkeit ist nur, ob eine Änderung der Verteilungsgrundsätze bewirkt wird.

Die Mitbestimmung kann auch ohne aktuellen Tarifanlass schon im Voraus dadurch ausgeübt werden, dass in eine Betriebsvereinbarung Regelungen aufgenommen werden, die Aussagen darüber enthalten, in welcher Weise bei Tariflohnerhöhungen die Anrechnung auf übertarifliche Zulagen vorgenommen werden darf.

Das Mitbestimmungsrecht entfällt allerdings, wenn tatsächliche oder rechtliche Hindernisse entgegenstehen, d.h. wenn für den Betriebsrat kein Regelungsspielraum verbleibt.

Tatsächliche Hindernisse stehen der Mitbestimmung des Betriebsrates z.B. entgegen, wenn der Arbeitgeber aufgrund seiner mitbestimmungsfreien Anrechnungsentscheidung die Anrechnung und damit die Kürzung des Zulagenvolumens so vornimmt, dass sich die mitzubestimmenden Verteilungsgrundsätze gar nicht ändern.

Beispiele aus dem Beschl. des Großen Senats (s.o. Rdn 1003):

 

Beispiel 1

Der Arbeitgeber zahlt an alle Arbeitnehmer einheitlich eine Zulage von 10 %, z.B.

Gruppe A: 2.000,00 EUR + 200,00 EUR = 2.200,00 EUR

Gruppe B: 3.000,00 EUR + 300,00 EUR = 3.300,00 EUR

Gruppe C: 5.000,00 EUR + 500,00 EUR = 5.500,00 EUR,

sodass die Zulagen im Verhältnis von 2:3:5 stehen.

Aus Anlass einer Tariflohnerhöhung von 6 % entschließt er sich, 4 % auf die übertariflichen Zulagen anzurechnen, sodass sich nunmehr folgende einheitlich auf 6 % des bisherigen Tariflohnes gekürzte Zulagen ergeben:

Gruppe A: 120,00 EUR

Gruppe B: 180,00 EUR

Gruppe C: 300,00 EUR,

die nach wie vor im Verhältnis 2:3:5 stehen, den Verteilungsgrundsatz also nicht ändern.

 

Beispiel 2

Der Verteilungsgrundsatz ändert sich auch nicht, wenn der Arbeitgeber anlässlich einer Tariflohnerhöhung die Anrechnung in der Weise vornimmt, dass er alle übertariflichen Zulagen um denselben Prozentsatz kürzt:

Gruppe A: Zulage 100,00 EUR – 20 % = 80,00 EUR

Gruppe B: Zulage 200,00 EUR – 20 % = 160,00 EUR

Gruppe C: Zulage 400,00 EUR – 20 % = 320,00 EUR.

Das Verhältnis der Zulagen von 1:2:4 hat sich nach der Anrechnung nicht geändert.

Für die Ausübung der Mitbestimmung des Betriebsrats ist auch kein Raum, wenn die Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die übertarifliche Zulage, bzw. deren Widerruf zum vollständigen Wegfall aller Zulagen führt.

Stehen bei einer Anrechnung tariflicher Lohnerhöhungen auf übertarifliche Zulagen rechtliche Hindernisse einer Änderung der Verteilungsgrundsätze entgegen, so ist gleichfalls für eine Mitbestimmung des Betriebsrats kein Regelungsraum vorhanden. Das ist der Fall bei einer vollen und gleichmäßigen Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die Zulagen aller Arbeitnehmer, auch wenn sich das Verhältnis der übertariflichen Zulagen zueinander ändert (BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90; BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05; BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05). Mehr als die volle Tariflohnerhöhung kann der Arbeitgeber mangels anderweitiger Vereinbarungen im Zweifel dem einzelnen Arbeitnehmer nicht ggü. dessen übertariflicher Zulage anrechnen. Bei einer solchen Fallgestaltung bleibt die Mitbestimmungsfreiheit auch dann erhalten, wenn die Anrechnung bei einem Teil der Arbeitnehmer zunächst versehentlich unterbleibt (BAG v. 31.10.1995 – 1 AZR 276/95).

Eine die Verteilungsgerechtigkeit betreffende und deshalb der Mitbestimmung des Betriebsrates unterliegende Änderung des Verteilungsgrundsatzes besteht bei einer unterschiedlichen Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die übertariflichen Zulagen.

Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates kann bei zeitlich gestaffelter Anrechnung von Tariflohnerhöhungen in mehreren Schritten oder Stufen auch dann in Betracht...

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