Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 1506
Eine wichtige Schranke der Regelungsmacht der Betriebspartner stellt schließlich der Individualschutz der einzelnen Arbeitnehmer dar. Hierbei besteht über die dogmatische Begründung dieser Einschränkung der Regelungskompetenz Uneinigkeit. Vorgeschlagen wird die Annahme eines "kollektivfreien Individualbereiches" (krit. Hierzu GK/Kreutz, § 77 Rn 350 ff.; Richardi/Picker, § 77 Rn 106 ff.). Offen ist, ob Betriebsvereinbarungen auch außerhalb der Regelungen in § 87 BetrVG einen "kollektiven Bezug" haben müssen, ob sie auf generell-abstrakte Regelungen beschränkt sind oder auch konkret-individuelle Regelungen treffen können (Einzelheiten vgl. bei GK/Kreutz, § 77 Rn 354 ff.; Richardi/Picker, § 77 Rn 104 f.).
aa) Persönlichkeitsrechte
Rz. 1507
Zu beachten ist insb. Das grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer. Dieses wird z.B. durch die Einführung einer Videoüberwachung tangiert. Insoweit besteht Mitbestimmungspflicht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Bei der Ausübung dieser Mitbestimmung haben die Betriebspartner – wie auch die Einigungsstelle – das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten. Dieses enthält nicht nur ein subjektives Abwehrrecht ggü. Den Staatsorganen. Es fordert außerdem den Schutz der Bürger durch den Staat, den ggü. Den privaten Grundrechtsträgern Schutzpflichten treffen. Der Staat muss die einzelnen Grundrechtsträger daher auch vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung der Grundrechte durch privatautonome Regelungen – wie Betriebsvereinbarungen – bewahren.
Rz. 1508
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst neben dem Recht am gesprochenen Wort und Bild auch das Recht, darüber zu entscheiden, ob von einem Menschen Filmaufnahmen gemacht und möglicherweise gegen ihn verwendet werden (BAG v. 29.6.2004 – 1 ABR 21/03, juris, zur Videoüberwachung; BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 34/03, juris, zur Videoüberwachung im Briefzentrum; BAG v. 26.8.2008 – 1 ABR 16/07, juris, zur Videoüberwachung in öffentlichen Räumen). Dabei gehören zu den Normen, die Einschränkungen des Persönlichkeitsrechtes rechtfertigen können, auch die von den Betriebsparteien im Rahmen ihrer Regelungskompetenz abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen. § 75 Abs. 2 S. 1 BetrVG verbietet nicht jede Betriebsvereinbarung, die zur Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes führt. Der Eingriff muss aber durch schutzwürdige Belange anderer Grundrechtsträger, etwa auch des Arbeitgebers, gerechtfertigt sein. Dabei ist eine Güterabwägung im Einzelfall erforderlich (BAG v. 25.4.2017 – 1 ABR 46/15, juris, zu unverhältnismäßig eingreifenden Belastungsstatistiken; BAG v. 17.11.2016 – 2 AZR 730/15, juris, zu elektronischem Warn- und Berichtssystem für Busfahrer; BAG v. 15.4.2014 – 1 ABR 2/13(B), juris, für Taschenkontrollen; BAG v. 27.3.2003 – 2 AZR 51/02, juris, zu Videoüberwachung und Beweisverwertung).
Rz. 1509
So ist die in einer Betriebsvereinbarung geregelte Verpflichtung des Arbeitgebers, den Betriebsrat zu sämtlichen Personalgesprächen einzuladen, wegen Verstoßes gegen § 75 Abs. 2 BetrVG i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG unwirksam. Die Betriebsparteien haben die ihnen nach § 75 Abs. 2 S. 1 BetrVG obliegende Pflicht verletzt, die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern. Sie haben beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete allgemeine Persönlichkeitsrecht zu beachten. Dieses gewährleistet Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst insbesondere die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (vgl. BverfG v. 19.9.2018 – 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15, juris Rn 219; BVerfG v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, zu C II 1 a der Gründe, juris). Außerhalb des absoluten Kernbereichs privater Lebensgestaltung wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung garantiert. Es kann deshalb durch verfassungsgemäße Gesetze eingeschränkt werden. Derartige Regelungen können auch die von den Betriebsparteien im Rahmen ihrer Regelungskompetenz geschlossenen Betriebsvereinbarungen enthalten. Der Gesetzgeber genügt insoweit seiner Pflicht, die Arbeitnehmer als Grundrechtsträger vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Grundrechte durch Kollektivvereinbarungen zu bewahren, indem er die Betriebsparteien in § 75 Abs. 2 S. 1 BetrVG verpflichtet, die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen (BAG v. 15.4.2014 – 1 ABR 2/13 (B), juris, Rn 40).
Rz. 1510
Hinweis
Das zulässige Maß einer Beschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugunsten schützenswerter Belange eines anderen Grund...