Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 1276
Die Betriebsstilllegung – sie gilt als Betriebsänderung nach § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG – setzt den ernstlichen und endgültigen Entschluss des Arbeitgebers voraus, die mit den Arbeitnehmern bestehende Betriebs- und Produktionsgemeinschaft für einen seiner Dauer nach unbestimmten, wirtschaftlich nicht unerheblichen Zeitraum aufzugeben (BAG v. 26.4.2007 – 8 AZR 695/05; BAG v. 14.10.1982 – 2 AZR 568/80, NJW1984, 381 = DB 1983, 2635; BAG v. 16.6.1987, NZA 1987, 671 = DB 1987, 1842 = BB 1987, 1737 = SAE 1989, 214 m. Anm. Eich). Als "Betrieb" i.S.d. § 111 BetrVG ist diejenige Einheit anzusehen, für die ein Betriebsrat gewählt worden ist. Dazu gehören i.S.d. § 4 BetrVG wegen Organisation und Eigenständigkeit und wegen ihrer Entfernung vom Hauptbetrieb als selbstständig anzusehende Betriebsteile. Dies gilt unabhängig davon, ob dieser Betriebsbegriff bei der Betriebsratswahl verkannt worden ist (BAG v. 27.6.1995 – 1 ABR 62/94, NZA 1996, 164 = DB 1996, 147 = BB 1996, 1504). Dagegen ist nicht zulässig, für die Bedeutung des Betriebsbegriffs allein auf die nicht angefochtene Wahl abzustellen, wenn das Betriebsratsgremium nach § 3 BetrVG abweichend von den im BetrVG vorgesehenen Strukturen gewählt worden ist (BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 3/07, NZA 2008, 1259 = DB 2009, 795 = EzA § 3 BetrVG 2001 Nr. 2 für den Fall einer Zusammenfassung durch Tarifvertrag).
Rz. 1277
Ist die Stilllegungsabsicht nicht endgültig, so liegt nur eine rechtlich unerhebliche Betriebspause oder Betriebsunterbrechung vor (BAG v. 19.6.1991 – 2 AZR 127/91, NZA 1991, 891 = DB 1991, 2442 = BB 1992, 1067). Die endgültige Stilllegung des Betriebs muss nach außen durch Auflösung der Betriebsorganisation zum Ausdruck gebracht werden. Sowohl die Entlassung der Belegschaft als auch die bloße Einstellung der Produktion für sich allein sind grds. noch kein hinreichendes Indiz für die Betriebsstilllegungsabsicht. Es müssen vielmehr jeweils weitere Stilllegungsakte hinzukommen, die auf die Auflösung der Betriebsorganisation schließen lassen (BAG v. 30.10.1986 – 2 AZR 696/85, NZA 1987, 382 = DB 1987, 992 = BB 1987, 970). Eine Stilllegung liegt aber auch dann vor, wenn der bisherige Betriebszweck zwar weiterverfolgt, aber eine nicht unerhebliche räumliche Verlegung des Betriebes vorgenommen und die alte Betriebsgemeinschaft tatsächlich aufgelöst wird und der Aufbau einer im Wesentlichen neuen Betriebsgemeinschaft erfolgt (BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, NZA 1988, 170 = DB 1988, 126 = BB 1987, 2370).
Rz. 1278
Die Verpflichtung, den Betriebsrat über die geplante Stilllegung zu unterrichten und mit ihm einen Interessenausgleich zu beraten, besteht auch dann, wenn die Betriebsstilllegung die unausweichliche Folge einer wirtschaftlichen Zwangslage ist und wenn es zu ihr – hier: wegen Fehlens ausreichender Masse in der Insolvenz bei Schließung durch den Insolvenzverwalter – keine sinnvolle Alternative gibt (BAG v. BAG v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZA 2004, 93 = NJW2004, 875 = DB 2003, 2708).
Rz. 1279
In Ausnahmefällen kann auch eine vorübergehende Schließung des Betriebs eine betriebsbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn im Kündigungszeitpunkt der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit mit großer Wahrscheinlichkeit für einen Zeitraum von z.B. zehn Monaten (LAG Berlin, 17.11.1986 – 9 Sa 77/86, DB 1987, 1360 = LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 9) oder einem ¾-Jahr (BAG v. 27.4.1995, NZA 1995, 1155 = DB 1995, 1914 = BB 1995, 1800 = WiPra 1996, 184 m. Anm. Berscheid) zu erwarten ist. Auch im Handel ist eine neun Monate währende tatsächliche Einstellung jeder Verkaufstätigkeit eine wirtschaftlich erhebliche Zeitspanne, die der Annahme eines Betriebsübergangs entgegensteht (BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, NZA 1997, 1050 = DB 1997, 1720 = BB 1997, 2110). Solche Maßnahmen sind dann ebenfalls interessenausgleichs- und sozialplanpflichtig.
Rz. 1280
Die Stilllegung eines Betriebsteils fällt ebenfalls unter die Interessenausgleichs- und sozialplanpflichtigen Betriebsänderungen des § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG. Dabei liegt ein Betriebsteil dann vor, wenn dieser Teil in die Organisation des Hauptbetriebs eingegliedert ist; entscheidend für die Abgrenzung ist der Grad der Verselbstständigung, der im Umfang der Leitungsmacht zum Ausdruck kommt. Erstreckt sich die Leitungsmacht auf alle wesentlichen Funktionen des Arbeitgebers in personellen und sozialen Angelegenheiten, handelt es sich um einen eigenständigen Betrieb (BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 254/06, NZA 2007, 1307 = DB 2007, 2376; BAG v. 3.4.2008, NZA 2008, 1060 = EzA § 1 KSchG Interessenausgleich Nr. 15). Handelt es sich um einen Betriebsteil, dann liegt eine Betriebsänderung nur vor, wenn dieser "wesentlich" ist.
Rz. 1281
Hinweis
Anders als bei einer "Spaltung" i.S.d. § 111 S. 3 Nr. 3 BetrVG – für die nicht "wesentliche" Betriebsteile betroffen sein müssen – kommt es nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut bei einer Stilllegung auf die Wesentlichkeit an. Grds. ist auch hierfür vom Zahlenwert des § 17 Abs. 1 KSchG (s.o.) auszugehe...