Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 1314
Plant ein Unternehmer (Arbeitgeber) derartige Betriebsänderungen, hat er ein abgestuftes System von Beteiligungsrechten bis zur Mitbestimmung zu beachten. Der Arbeitgeber hat einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat zu versuchen. Hierunter versteht man eine Einigung über das Ob, Wie und Wann der Betriebsänderung (BAG v. 27.10.1987 – 1 ABR 9/86, NZA 1988, 203 = DB 1988, 558 = BB 1988, 761). Das Gesetz sieht Einigungsversuche zwischen Unternehmer und Betriebsrat auf verschiedenen Stufen vor. Der Information über die geplante Betriebsänderung folgt die Beratung mit dem Betriebsrat (§ 111 S. 1 BetrVG). Der Betriebsrat kann in Unternehmen mit mehr als 300 Arbeitnehmern zu seiner Unterstützung einen Berater hinzuziehen, wobei es nicht auf die Betriebsgröße ankommt (§ 111 S. 2 BetrVG). Konsequenterweise muss die Vorschrift bei Gemeinschaftsbetrieben keine entsprechende Anwendung finden, sondern vielmehr ist die Größe des Gemeinschaftsbetriebes zu betrachten (str.; a.A. DKK/Däubler. BetrVG, § 111 Rn 135 b). Die Hinzuziehung mehrerer Berater wird zwar teilweise für zulässig erachtet (Fitting, § 111 BetrVG Rn 121; DKKW/Däubler, § 111 Rn 176; Richardi/Annuß, § 111 BetrVG Rn 54), was aber konsequenterweise abzulehnen ist mit Verweis auf den Gegenschluss zu den verwandten Regelungen in § 80 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 BetrVG, wo die Beschränkung auf einen Berater fehlt. Andernfalls wäre auch der Verzicht auf die Erforderlichkeit nicht denkbar (ErfK/Kania, § 111 BetrVG Rn 25). Die Kostentragungspflicht des Unternehmers richtet sich nach § 40 BetrVG. Anders aber als bei § 80 BetrVG bedarf die Beauftragung keiner vorherigen Vereinbarung mit dem Arbeitgeber und auch keines Nachweises der Erforderlichkeit im Einzelfall (ErfK/Kania, § 111 BetrVG Rn 25; eingeschränkt Fitting, § 111 BetrVG Rn 123).
aa) Schriftform
Rz. 1315
Kommt zwischen Unternehmer und Betriebsrat ein Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung zustande, so ist dieser schriftlich niederzulegen und vom Unternehmer und Betriebsrat zu unterschreiben (§ 112 Abs. 1 S. 1 BetrVG). Diese Schriftlichkeit ist konstitutiv. Die betroffenen Arbeitnehmer müssen wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen die geplante Betriebsänderung durchgeführt werden soll, damit sie wissen, mit welchen Nachteilen sie rechnen müssen. Nur so können sie prüfen, ob ein Interessenausgleich zustande gekommen ist und ob der Arbeitgeber sich hieran hält. Das mündliche Einverständnis des Betriebsrates reicht hierfür nicht aus (BAG v. 26.10.2004 – 1 AZR 493/03, NZA 2005, 237 = DB 2005, 115 = BB 2005, 559).
bb) Notwendigkeit zur Anrufung der Einigungsstelle
Rz. 1316
Kommt eine Einigung über den Interessenausgleich nicht zustande, können der Unternehmer oder der Betriebsrat gem. § 112 Abs. 2 S. 2 BetrVG die Einigungsstelle anrufen. Der Arbeitgeber muss die Einigungsstelle anrufen, bevor er mit der Betriebsänderung beginnt – anderenfalls setzt er sich der Gefahr von Abfindungszahlungen im Rahmen Nachteilsausgleichs nach § 113 BetrVG aus. Dies gilt selbst dann, wenn eine mündliche Zustimmung des Betriebsrates zur Betriebsänderung vorliegt (BAG v. 26.10.2004 – 1 AZR 493/03, NZA 2005, 237 = DB 2005, 115 = BB 2005, 559). Die Einigungsstelle soll eine Einigung der Parteien – auch über den Interessenausgleich – versuchen (§ 112 Abs. 3 S. 2 BetrVG).
cc) Inhalt des Interessenausgleichs
Rz. 1317
In all diesen Verfahrensabschnitten geht es nicht nur um das "Ob" einer Betriebsänderung (bspw. einer Betriebsstilllegung), sondern auch um die Modalitäten, also um das "Wie", mithin insb. um die Zeitpunkte, zu denen Kündigungen ausgesprochen werden und um etwaige Freistellungen, d.h. um die vollständige sofortige Betriebsstilllegung einerseits, die zeitlich gestreckte Stilllegung des Betriebes andererseits. Der Betriebsrat soll die Möglichkeit haben, auf die endgültige Entscheidung des Unternehmers im Interesse der von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer einzuwirken, bevor der Unternehmer vollendete Tatsachen schafft (BAG v. 9.7.1985, NZA 1986, 100 = DB 1986, 279). Hat der Unternehmer den Betrieb tatsächlich schon stillgelegt, ohne dass der Betriebsrat ordnungsgemäß eingeschaltet war, ist eine Mitwirkung im Verfahren über den Interessenausgleich sinnlos geworden (Berscheid, WiPra 1996, 370, 373). Dies setzt voraus, dass der Arbeitgeber das Verfahren durchgeführt hat, bevor er mit der Maßnahme begonnen hat. Er beginnt mit der Betriebsänderung, wenn er unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft (BAG v. 21.7.2005 – 6 AZR 592/04, NZA 2006, 162 = EzA § 125 InsO Nr. 2). Eine Stilllegung beginnt, wenn er unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift; dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er die bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Zweck der Stilllegung kündigt (BAG v. 4.12.2002 – 10 AZR 16/02, NZA 2003, 665 = DB 2003, 618). Dagegen stellen die Einstellung der Produktion ohne Veräußerung von Betriebsmitteln ebenso wie die Freistellung des überwiegenden Teils der Arbeitnehmer ohne Kündigung keine unumkehrbare Maßnahme und damit keinen Beginn d...