Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 907
Nach § 84 BetrVG hat jeder Arbeitnehmer das Recht, sich bei den zuständigen Stellen des Betriebes zu beschweren, wenn er sich vom Arbeitgeber oder von Arbeitnehmern des Betriebes benachteiligt oder ungerecht behandelt oder in sonstiger Weise beeinträchtigt fühlt. Er kann hierbei ein Mitglied des Betriebsrates zur Unterstützung oder Vermittlung hinzuziehen. Es liegt im Belieben des Arbeitnehmers, welches Betriebsratsmitglied er hinzuziehen will. Dieses ist dann gem. § 37 Abs. 2 BetrVG von der Arbeitsleistung freigestellt. Die Beteiligung bei derartigen Individualbeschwerden gehört zu den Aufgaben dieses Betriebsratsmitgliedes. Die Beschwerde kann sich auf jeden beliebigen Gegenstand beziehen, allerdings ist ein Zusammenhang mit der Tätigkeit im Betrieb erforderlich.
Rz. 908
Die Beteiligung des Betriebsrates als Organ an derartigen Beschwerden ergibt sich aus § 85 BetrVG. Dort ist dem Betriebsratsgremium zur Pflicht gemacht, die Beschwerde entgegenzunehmen. Das Betriebsratsgremium oder ein hierzu beauftragter Ausschuss hat dann über die Beschwerde zu beraten. Hält der Betriebsrat die Beschwerde für nicht berechtigt, dann hat der Betriebsratsvorsitzende den Arbeitnehmer hierüber zu unterrichten (dies ergibt sich aus § 80 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG). Hält er sie – nach entsprechendem Beschluss – für berechtigt, dann verhandelt der Betriebsrat mit dem Arbeitgeber, wie man ihr abhelfen könnte. Verspricht der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Abhilfe, so erwächst dem Arbeitnehmer hieraus ein – als Individualanspruch im Urteilsverfahren – durchsetzbarer Rechtsanspruch gegen den Arbeitgeber entsprechend der Regelung in § 84 Abs. 2 BetrVG (GK-BetrVG/Franzen, § 85 Rn 8 und 32; Richardi/Thüsing, 85 Rn 13). Der Verhandlungsführer des Betriebsrats nimmt insoweit die Stellung eines Vertreters des Arbeitnehmers ein, sodass der Anspruch auch besteht, wenn das Versprechen des Arbeitgebers nur ggü. diesem geäußert worden ist. Auch der Betriebsrat dürfte, soweit das Abhilfeversprechen als Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ausgestaltet ist (Regelungsabrede), einen – im Beschlussverfahren durchsetzbaren – Anspruch gegen den Arbeitgeber besitzen, diese Absprache auch durchzuführen. Dies setzt jedoch voraus, dass auch über die Form der Abhilfe Einigung erzielt worden ist. Ein Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Betriebsrat, eine Beschwerde zu unterstützen, besteht dagegen nicht.
Rz. 909
Das Gesetz bleibt bei dieser freiwilligen Lösung jedoch nicht stehen. Der Gesetzgeber gibt dem Betriebsrat gerade dann, wenn der Arbeitgeber der Beschwerde nicht abhilft, ein sehr effektives Hilfsmittel in die Hand, doch noch zu einer Lösung des durch den Arbeitnehmer aufgeworfenen Problems zu kommen. Nach § 85 Abs. 2 BetrVG kann der Betriebsrat immer dann, wenn zwischen ihm und dem Arbeitgeber Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung der Beschwerde bestehen, die Einigungsstelle anrufen. Dieses Recht des Betriebsrates ist dem Wortlaut nach auf Streitigkeiten über die Berechtigung der Beschwerde beschränkt, es greift nicht ein, wenn der Arbeitgeber die Berechtigung der Beschwerde anerkennt, Arbeitnehmer oder Betriebsrat aber mit den Abhilfemaßnahmen des Arbeitgebers nicht zufrieden sind (BAG v. 22.11.2005 – 1 ABR 50/04, juris). Hilft der Arbeitgeber trotz Anerkennung der Berechtigung der Beschwerde überhaupt nicht ab, muss der Arbeitnehmer selbst nach § 84 Abs. 2 BetrVG im Individualverfahren gegen den Arbeitgeber vorgehen. Die nach § 76 BetrVG ggf. erst zu bildende Einigungsstelle ersetzt durch Spruch die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, legt also fest, ob die Beschwerde berechtigt ist oder nicht.
Rz. 910
Die Einigungsstelle kann die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates nicht erweitern. Das Verfahren dient auch nicht dazu, in die Leitung des Betriebes einzugreifen und dem Arbeitgeber bestimmte Maßnahmen vorzuschreiben. Zwar muss die Einigungsstelle in ihrem Spruch diejenigen konkreten tatsächlichen Umstände benennen, die sie als zu vermeidende Beeinträchtigung des Arbeitnehmers ansieht. Sie darf aber – dies folgt aus einem Vergleich von § 85 Abs. 2 S. 2 und § 85 Abs. 1 BetrVG – nicht über die vorzunehmenden Abhilfemaßnahmen des Arbeitgebers entscheiden (BAG v. 22.11.2005 – 1 ABR 50/04, juris). Auch die Einigungsstelle kann also nicht gegen den Willen des Arbeitgebers festlegen, dass etwa ein Vorgesetzter, über dessen Unfreundlichkeit sich ein Arbeitnehmer zu Recht beschwert hat, eine Abmahnung erhält oder versetzt werden muss.
Rz. 911
Die verbindliche Entscheidung der Einigungsstelle ist nach dem Gesetzeswortlaut ausgeschlossen, wenn Gegenstand der Beschwerde ein Rechtsanspruch des Arbeitnehmers ist (§ 85 Abs. 2 S. 3 BetrVG). Diese einschränkende Regelung ist eng auszulegen. Sie gilt nur für Rechtsansprüche im engeren Sinn, nicht aber dann, wenn dem Arbeitgeber ein Ermessensspielraum überlassen ist. Wird bei der Ausübung des Direktionsrechts eine fehlerhafte Ermessenausübung des Arbeitgebers gerügt, ist die Zuständig...