Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
1. Zweck, Umfang und Grenzen der Mitbestimmung des Betriebsrates
Rz. 917
Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates in sozialen Angelegenheiten bestehen, soweit nicht gesetzliche oder tarifliche Regelungen vorrangig sind und damit sperrend eingreifen, in den zu 14 Gruppen zusammengefassten "Angelegenheiten" des § 87 Abs. 1 BetrVG. Sinn und Zweck der Mitbestimmung ist es, die kraft seines Direktionsrechtes bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten des Arbeitgebers zum Schutz der Arbeitnehmer an die gleichberechtigte Beteiligung des Betriebsrates zu binden (BAG v. 8.8.1989 – 1 ABR 62/88).
Rz. 918
Tarifliche Regelungen schließen das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates aus, wenn sie die sonst nach § 87 BetrVG mitbestimmungspflichtige Angelegenheit selbst abschließend und zwingend regeln und damit eben auch das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers beseitigen (vgl. BAG v. 18.4.1989 – 1 ABR 100/87). Selbstverständlich kann eine tarifliche Regelung auch Spielraum für weitere Regelungen auf betrieblicher Ebene lassen, die dann Arbeitgeber und Betriebsrat gemeinsam ausfüllen oder ergänzen können. Ob die Tarifvertragsparteien Raum für ergänzende Regelungen lassen wollten, muss, wenn es im Tarifvertrag an einem ausdrücklichen Hinweis fehlt, aus den einschlägigen tariflichen Bestimmungen selbst eindeutig zu entnehmen sein (BAG v. 31.8.1982 – 1 ABR 8/81).
Rz. 919
Eine der Mitbestimmung des Betriebsrates vorgehende tarifliche Regelung kommt immer schon dann infrage, wenn jedenfalls der Arbeitgeber tarifgebunden ist (BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 15/85). Dagegen kommt es nicht darauf an, ob überhaupt oder ggf. wie viele Arbeitnehmer kraft ihrer Mitgliedschaft in der Gewerkschaft tarifgebunden sind. Die Arbeitnehmer müssen aber unter den fachlichen und persönlichen Geltungsbereich fallen. Eine gem. § 4 Abs. 5 TVG nur nachwirkende Regelung sperrt die Mitbestimmung des Betriebsrates nicht (BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 15/85). Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 BetrVG werden auch nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass die entsprechenden mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten i.S.d. § 77 Abs. 3 BetrVG üblicherweise durch Tarifverträge geregelt werden. Nach der vom BAG hierzu vertretenen Vorrangtheorie kommt es in den Angelegenheiten des § 87 Abs. 1 Nr. 1–13 BetrVG für die Zulässigkeit von Betriebsvereinbarungen allein darauf an, ob die Mitbestimmung gem. § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG durch eine “bestehende‘ tarifliche Regelung ausgeschlossen ist (BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 603/01; Anm.: § 87 Abs. 1 Nr. 14 BetrVG wurde erst mit Wirkung zum 18.6.2021 eingefügt).
Rz. 920
Begreift man die Mitbestimmung als gleichberechtigte Beteiligung des Betriebsrates an der Ausübung des Direktionsrechts, versteht sich, dass das Mitbestimmungsverlangen nicht auf weiter gehende Anordnungen abzielen kann, als sie auch der Arbeitgeber eines betriebsratlosen Betriebes überhaupt zu treffen vermag. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates besteht deshalb nur insoweit, wie der Arbeitgeber selbst noch etwas bestimmen kann. Ist sein Direktionsrecht durch gesetzliche Bestimmungen unmittelbar oder etwa durch Behördenauflagen in einem Verwaltungsakt, mit dem gesetzliche Vorschriften vollzogen werden, eingeschränkt, kann das Mitbestimmungsrecht nicht oder nur noch in dem ggf. verbleibenden Regelungsraum ausgeübt werden (vgl. BAG v. 26.5.1988 – 1 ABR 9/87).
Rz. 921
In den danach regelungsbedürftigen und regelungsfähigen Sachverhalten kann der Arbeitgeber nicht kraft seines Direktionsrechtes wirksame Anordnungen gegen den Willen des Betriebsrates treffen. Arbeitgeber und Betriebsrat müssen vielmehr eine einvernehmliche Lösung in Gestalt einer Betriebsvereinbarung (vgl. Rdn 1483 ff.) oder einer nicht formgebundenen Regelungsabrede finden. Gelingt das nicht, kann jede Seite der Verhandlungen nach § 87 Abs. 2 BetrVG die Einigungsstelle anrufen (s. dazu Rdn 1569 ff.).
Rz. 922
Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates schließt grds. auch dessen Recht ein, zur Regelung einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit nach § 87 Abs. 1 BetrVG die Initiative zu ergreifen und notfalls auch die Einigungsstelle anzurufen (BAG v. 8.8.1989 – 1 ABR 62/88). Aufgrund des Initiativrechts des Betriebsrats kann dieser auch verlangen, dass eine bereits formlos vereinbarte Regelung einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit – z.B. die vom Betriebsrat gebilligte Anwendung einer für den Betrieb nicht bindenden tariflichen Vergütungsordnung – in einer Betriebsvereinbarung niedergelegt wird (BAG v. 8.8.1989 – 1 ABR 62/88). Beschränkungen des Initiativrechts müssen sich aus dem jeweiligen Mitbestimmungstatbestand oder aus anderen Bestimmungen des Gesetzes ergeben (BAG v. 28.4.1981 – 1 ABR 53/79).
Rz. 923
Die folgende Darstellung der einzelnen Mitbestimmungsthemen des § 87 Abs. 1 BetrVG stellt keine lückenlose Dokumentation der bislang hierzu ergangenen Rspr. dar. Es wird vielmehr anhand einiger exemplarischer Fälle, insb. an solchen, die einen gewissen Praxisschwerpunkt bilden, der Verlauf der Grenzlinie zwischen mitbesti...