I. Nicht in allen Einzelheiten
Rz. 38
Die Voraussehbarkeit braucht sich nicht auf alle Einzelheiten des Geschehensablaufes zu erstrecken. Ein nicht völlig außerhalb jeder Lebenserfahrung liegender Geschehensablauf ist deshalb regelmäßig auch vorhersehbar (BGHSt 31, 101).
II. Überraschende Ereignisse
Rz. 39
Der Fahrzeugführer muss sich deshalb auch auf überraschende Ereignisse einrichten, wenn aus objektiver Sicht mit der später eingetretenen Situation gerechnet werden konnte. So hat sich z.B. der Kraftfahrer in der kalten Jahreszeit auf Glatteis (OLG Koblenz VRS 63, 354), nicht aber auf überraschend auftretende Eiskanten (OLG Hamm zfs 2002, 306) einzustellen. Im ländlichen Bereich muss er z.B. mit Wildwechsel rechnen (LG Verden VRS 55, 421).
Rz. 40
Allerdings braucht ein Kraftfahrer nicht grundsätzlich so langsam zu fahren, dass er stets rechtzeitig anhalten kann, wenn plötzlich von rechts ein Tier vor sein Fahrzeug springt (KG NZV 1993, 313).
Rz. 41
Nicht voraussehbar sind dagegen Ereignisse, die so sehr außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegen, dass sie ein Kraftfahrer auch nicht mit der gebotenen Sorgfalt ins Auge zu fassen brauchte (BGH VRS 24, 207), so z.B. ein grob verkehrswidriges Heranfahren eines anderen Verkehrsteilnehmers an eine Unfallstelle (BayObLG VRS 62, 368). Generell ist ein Mitverschulden des Unfallgegners jedoch nur dann geeignet, die Vorhersehbarkeit eines Unfalls auszuschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Sachverhalt besteht (KG zfs 2014, 529), wie z.B. im Falle eines vorsätzlich begangenen qualifizierten Rotlichtverstoßes im Querverkehr (OLG Hamm NZV 2016, 242).
III. Schädigungsfolgen
Rz. 42
Voraussehbar muss nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch der eingetretene Erfolg sein. So ist z.B. der Tod eines bei einem Verkehrsunfall verletzten Beifahrers auch dann voraussehbar, wenn er aufgrund eines nicht schweren ärztlichen Kunstfehlers stirbt (OLG Stuttgart NJW 1982, 295).
Rz. 43
Nicht voraussehbar ist dagegen der nach einem leichten Auffahrunfall infolge Schockwirkung eintretende Tod eines schwer Herzkranken (OLG Karlsruhe NJW 1976, 1853) oder der auf einen schweren ärztlichen Fehler zurückzuführende Tod eines Unfallverletzten.
Rz. 44
War zwar nicht der Tod, aber doch die geringere Folge "Körperverletzung" voraussehbar, ist der der fahrlässigen Tötung Angeklagte nicht etwa freizusprechen, sondern wegen fahrlässiger Körperverletzung zu verurteilen (RGSt 28, 272).