1. StVO und StVZO als Maßstab
Rz. 6
Die im Straßenverkehr zu beachtenden Sorgfaltspflichten sind weitgehend in der StVO und der StVZO geregelt, so dass einem Verstoß hiergegen bereits indizielle Bedeutung für den Fahrlässigkeitsvorwurf zukommt (OLG Hamm VRS 61, 353; OLG Karlsruhe NZV 1990, 199).
2. Vertrauensgrundsatz
Rz. 7
Eine solche indizielle Bedeutung kommt einer Verletzung der Verpflichtung aus der Generalklausel des § 1 Abs. 2 StVO, die den Verkehrsteilnehmern ein Verhalten abverlangt, das jede Schädigung anderer ausschließt, ausnahmsweise nicht zu. Diese Regel gilt nämlich nur mit Einschränkungen, da sonst der moderne Straßenverkehr gar nicht möglich wäre.
Rz. 8
Die sehr weit gefasste Verhaltensregel des § 1 Abs. 2 StVO wird nämlich durch den sog. "Vertrauensgrundsatz" eingeschränkt. Danach kann ein Verkehrsteilnehmer, der sich selbst verkehrsgerecht verhält, grundsätzlich auf das verkehrsgerechte Verhalten anderer (selbst noch gar nicht sichtbarer) Verkehrsteilnehmer vertrauen (BGHSt 13, 169; BGH NZV 1992, 108).
3. Ausnahmen vom Vertrauensgrundsatz
Rz. 9
Auf das verkehrsgerechte Verhalten von Kindern im Alter bis zu sieben bzw. acht Jahren darf ein Verkehrsteilnehmer dagegen nicht vertrauen (§ 3 Abs. 2a StVO). Mit verkehrswidrigem Verhalten älterer Kinder braucht er dagegen nur dann zu rechnen, wenn besondere Umstände zu außergewöhnlicher Vorsicht mahnen (BGH NJW 1982, 1149; OLG Hamburg NVZ 1990, 71). Auch gegenüber erkennbar hilfsbedürftigen oder älteren Personen kann sich ein Kraftfahrer nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen.
Auf den Vertrauensgrundsatz kann sich schließlich auch derjenige nicht berufen, der erkannt hat, dass der andere Verkehrsteilnehmer sich nicht verkehrsgerecht verhält (BGH NZV 1992, 108).
4. Allgemeine Sorgfaltspflichten
Rz. 10
Zu den Sorgfaltspflichten eines Kraftfahrers gehört, dass er sich vor Fahrtantritt von dem ordnungsgemäßen Zustand seines Fahrzeuges überzeugen muss (im Einzelnen siehe § 24 Rdn 7 ff.).
Außerdem darf er selbstverständlich nur unter Berücksichtigung seiner evtl. allgemein oder aktuell bestehenden Einschränkungen am Verkehr teilnehmen. Das gilt für Übermüdung oder sonstige Defizite wie Einschränkung des Sehvermögens, wie auch für Krankheiten und zwar auch solche, die sich erst im Laufe der Fahrt auswirken können, wie z.B. Epilepsie (BGH NJW 1995, 795).
Grundsätzlich muss sich ein Kraftfahrer vor Fahrtantritt auf seine Fahrtüchtigkeit hin selbst überprüfen, ggf. hat er sich fachmännisch beraten zu lassen, was insbesondere für ältere Kraftfahrer geboten sein kann (BGH NJW 1988, 909).
Aber auch den Halter treffen besondere Sorgfaltspflichten, so darf er z.B. sein Fahrzeug nicht einem erkennbaren Fahrunsicheren überlassen, andernfalls trifft ihn ein Fahrlässigkeitsvorwurf bezüglich der von dem Fahrer begangenen fahrlässigen Körperverletzung oder Tötung (OLG Karlsruhe NJW 1980, 1859).
Das gilt entsprechend für Arbeitgeber oder Disponenten, die den Fahrer zu solchen Lenkzeitüberschreitungen anhalten, dass dieser zwangsläufig erheblich übermüdet ist. Dann kann der Disponent im Falle einer fahrlässigen Tötung zu einer höheren (mehrjährigen) Freiheitsstrafe verurteilt werden als der Fahrer (OLG Karlsruhe NJW 1980, 1859). Zur Verantwortlichkeit des Halters und anderer Personen vgl. die Ausführungen oben (siehe § 24 Rdn 26 ff.).
In die Verantwortung genommen werden können aber auch sonstige Dritte und zwar dann, wenn Umstände vorliegen, die deren Garantenpflicht begründen, was z.B. bejaht werden kann bei einem Gastgeber, der seinem Gast, von dem er weiß, dass dieser noch mit seinem Pkw fahren wird, Alkohol in Mengen einschenkt, die zwangsläufig zur Fahruntüchtigkeit führen.
5. Drei häufig umstrittene Unfallvarianten
Rz. 11
Die Rechtsprechung zu den vielen, im Straßenverkehr einzuhaltenden Sorgfaltspflichten ist zu umfangreich, als dass man sie im Rahmen dieses Buches auch nur im Ansatz darstellen könnte. Insoweit darf deshalb auf die Kommentare zum Straßenverkehrsrecht verwiesen werden.
Auf die häufigsten in der Praxis vorkommenden drei Unfallvarianten soll nachfolgend jedoch kurz eingegangen werden:
a) Fahren auf Sicht
Rz. 12
Bei vielen, vor allem nächtlichen Unfällen kommt dem in § 3 Abs. 1 S. 4 StVO normierten Gebot des Fahrens auf Sicht entscheidende Bedeutung zu. Die Sichtweite gibt dem Kraftfahrer, unabhängig von der jeweils durch Verkehrszeichen angeordneten, die in der konkreten Situation höchstzulässige Geschwindigkeit vor. Es darf nur so schnell gefahren werden, dass ein Anhalten innerhalb des überschaubaren Bereiches jederzeit möglich ist. Freilich gilt auch hier der Vertrauensgrundsatz.
Rz. 13
Besondere Bedeutung bekommt das Gebot, auf Sicht zu fahren, in der Dunkelheit. So bleibt der Kraftfahrer bei nächtlichen, außerörtlichen Fußgängerunfällen meistens an dem Vorwurf hängen, er sei nicht auf Sicht gefahren. Welch hohe Anforderungen die Rechtsprechung insoweit stellt, zeigt z.B. die Entscheidung des OLG Köln (VersR 2003, 219), die eine bei Dunkelheit mit Abblendlicht auf gerader, aber regennasser Landstraße gefa...