Torsten Bendig, Dr. iur. Matthias Keller
Rz. 88
Ist der gelegentliche Konsum von Cannabis zu bejahen, kommt es für das Entfallen der Fahreignung maßgeblich darauf an, ob in der Person des Betroffenen sog. Zusatztatsachen vorliegen. Diese werden in Nr. 9.2.2 zur Anlage 4 der FeV aufgelistet.
Rz. 89
Eine "Rauschfahrt", bei der sich der Betroffene unfähig zeigt, Konsum und Fahren zu trennen, ist in den Entziehungsverfahren der am häufigsten auftretende Umstand, der zum gelegentlichen Konsum von Cannabis hinzutritt.
Rz. 90
Fraglich ist, ob die erstmalige Rauschfahrt eines gelegentlichen Konsumenten ausreicht, um seine Ungeeignetheit zu begründen. Unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung verneint das BVerwG dies und führt in mehreren Urteilen vom 11.4.2019 richtungweisend aus:
"Bei einem gelegentlichen Konsumenten von Cannabis, der erstmals unter einer seine Fahrsicherheit möglicherweise beeinträchtigenden Wirkung von Cannabis ein Kraftfahrzeug geführt hat, darf die Fahrerlaubnisbehörde in der Regel nicht ohne weitere Aufklärung von fehlender Fahreignung ausgehen und ihm unmittelbar die Fahrerlaubnis entziehen. In solchen Fällen hat sie gemäß § 46 Abs. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV nach pflichtgemäßem Ermessen über die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu entscheiden."
Rz. 91
Praxistipp: Entziehung bei erstmaliger Rauschfahrt unzulässig
In Anknüpfung an die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist es für die anwaltliche Beratung nunmehr entscheidend, das Augenmerk darauf zu legen, ob der Mandant als gelegentlicher Konsument von Cannabis erstmals durch eine Rauschfahrt auffällig geworden ist. Ist dies der Fall, darf ihm regelmäßig nicht die Fahrerlaubnis entzogen werden. Es kommt allein die Abklärung von Eignungszweifeln in Betracht, und zwar durch die behördliche Anordnung der Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens.
Rz. 92
In diesem Zusammenhang kommt für den unbemittelten Mandanten, der gerichtlich gegen eine Entziehung der Fahrerlaubnis vorgeht, u.a. die Stellung eines Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe in Betracht. Die hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung ist nach Maßgabe der vorgenannten Rechtsprechungsänderung regelmäßig gegeben.
Rz. 93
Muster 47.6: PKH-Antrag Entziehung bei erstmaliger Rauschfahrt
Muster 47.6: PKH-Antrag "Entziehung bei erstmaliger Rauschfahrt"
Verwaltungsgericht
_________________________
Kläger _________________________ ./. Beklagte _________________________
Aktenzeichen: _________________________
wegen: Entziehung der Fahrerlaubnis
hier: Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
Namens und im Auftrag des Klägers wird hiermit beantragt,
für die bereits erhobene Klage mit dem Inhalt, die Ordnungsverfügung vom _________________________ über die Entziehung der Fahrerlaubnis aufzuheben, ab Erhebung der Klage Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz unter Beiordnung von Rechtsanwalt _________________________ aus _________________________ zu gewähren.
Zunächst ist zum Beleg der Mittellosigkeit auf die in der Anlage beigefügte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu verweisen. Die Prozesskostenhilfe ist zu gewähren, weil die Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussicht i.S.v. § 166 VwGO i.V.m. § 114 S. 1 ZPO besitzt.
Dem liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Der Kläger, der zugegebenermaßen hin und wieder Cannabis konsumiert, führte am _________________________ ein Kraftfahrzeug und stand dabei unter Einfluss von Cannabis. Der THC-Wert betrug _________________________ ng/ml. Der von der Beklagten deshalb erlassene Entziehungsbescheid hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Zu Unrecht geht die Begründung des Bescheides von der Annahme aus, aus dem Verstoß gegen das in Nr. 9.2.2 der Anlage zur FeV enthaltene Trennungsgebot ließe sich eine Fahrungeeignetheit ableiten. Bei dem Vorfall handelte es sich um eine erstmalige Fahrt unter Drogeneinfluss. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist geklärt, dass eine erstmalige Rauschfahrt die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht zu rechtfertigen in der Lage ist, vgl. dazu nur BVerwG, Urt. v. 11.4.2019 – 3 C 2/18 – juris, 1. Leitsatz.
Anlage: Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
Rz. 94
Nach gefestigter Rechtsprechung ist von einer Rauschfahrt im vorgenannten Sinne auszugehen, wenn der Betroffene eine die Fahrsicherheit beeinträchtigende THC-Konzentration von 1 ng/ml oder mehr im Blutserum besitzt.
Rz. 95
Allerdings hatte die aus Fachwissenschaftlern zusammengesetzte sog. Grenzwertkommission im September 2015 empfohlen, erst ab einer THC-Konzentration von 3,0 ng/ml oder mehr im Blutserum von einem Verstoß gegen das Trennungsgebot und damit einer Rauschfahrt auszugehen.
Rz. 96
Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung ist aber nicht von der bisher anerkannten Linie eines niedrigen Schwellenwerts von 1 ng/ml THC abgerückt. Insbesondere hat das BVerwG diesen Schwellenwert unbeanstandet gelassen.