I. Überblick
Rz. 1
Die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere Gebühr soll das Gesamtaufkommen der Gebühren in denjenigen Fällen begrenzen, in denen sich nach den Vorstellungen des Gesetzgebers der Umfang der Tätigkeit in einer Angelegenheit erheblich verringert, weil der Anwalt in einer anderen Angelegenheit bereits vorbefasst war. Besonders deutlich wird dies bei den Anrechnungsvorschriften der Vorbem. 2.3 Abs. 4 VV und Vorbem. 3 Abs. 4 VV, soweit Rahmengebühren betroffen sind. Danach darf nämlich in der nachfolgenden Angelegenheit bei der Gebührenbemessung nach § 14 Abs. 1 RVG nicht berücksichtigt werden, "dass der Umfang der Tätigkeit infolge der vorangegangenen Tätigkeit geringer ist". Gerade dieser geringere Umfang soll nämlich durch die Anrechnung der Gebühren ausgeglichen werden.
II. Die Abrechnung mit dem Auftraggeber
1. Selbstständigkeit der Gebühren
Rz. 2
Mit § 15a Abs. 1 RVG hat der Gesetzgeber klargestellt, dass Gebühren, die aufeinander anzurechnen sind, zunächst einmal völlig unabhängig voneinander selbstständig entstehen, und zwar – unbeschadet einer späteren Anrechnung – in voller Höhe.
Rz. 3
Ist zunächst eine Gebühr entstanden und entsteht später eine weitere Gebühr, auf die die erste Gebühr anzurechnen ist, dann führt dies also entgegen der früheren Rspr. des BGH nicht dazu, dass die weitere Gebühr von Vornherein nur in verminderter Höhe, nämlich um den Anrechnungsbetrag reduziert, entsteht; vielmehr entsteht die zweite Gebühr zunächst einmal in voller Höhe und kann unbeschadet einer Anrechnung geltend gemacht werden.
Rz. 4
Die Anrechnung führt gegenüber dem Auftraggeber nur dazu, dass insgesamt nicht mehr verlangt werden kann als das um die Anrechnung verminderte Gesamtaufkommen. Diese Selbstständigkeit der aufeinander anzurechnenden Gebühren hat zahlreiche Konsequenzen.
2. Wahlrecht bei der Einforderung
Rz. 5
Der Anwalt kann nach § 15a Abs. 1 RVG frei wählen, welche der aufeinander anzurechnenden Gebühren er in voller Höhe einfordert und welche vermindert. Er kann selbstverständlich nicht beide Gebühren zugleich unvermindert einfordern.
Beispiel 1: Wahlrecht bei der Anrechnung der Geschäftsgebühr nach Gegenstandswert (I)
Der Anwalt hatte nach einem Gegenstandswert von 8.000,00 EUR eine 1,5-Geschäftsgebühr (Nr. 2300 VV) verdient und anschließend im gerichtlichen Verfahren eine 1,3-Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV).
Nach § 15a Abs. 1 RVG entstehen diese beiden Gebühren zunächst einmal unabhängig voneinander, insgesamt kann allerdings nicht mehr beansprucht werden als der um die Anrechnung gekürzte Betrag. Insgesamt steht dem Anwalt also zu: 1,5 + 1,3 – 0,75 = 2,05.
Fordert der Anwalt die Geschäftsgebühr in voller Höhe ein, dann darf er von der Verfahrensgebühr lediglich noch 0,55 verlangen.
I. |
Außergerichtliche Vertretung |
|
1. |
1,5-Geschäftsgebühr, Nr. 2300 VV |
|
753,00 EUR |
|
(Wert: 8.000,00 EUR) |
|
|
2. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
|
20,00 EUR |
|
Zwischensumme |
773,00 EUR |
|
3. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
|
146,87 EUR |
Gesamt |
|
919,87 EUR |
II. |
Gerichtliches Verfahren |
|
1. |
1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV |
|
652,60 EUR |
|
(Wert: 8.000,00 EUR) |
|
|
2. |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV anzurechnen, |
|
– 376,50 EUR |
|
0,75 aus 8.000,00 EUR |
|
|
3. |
1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV |
|
602,40 EUR |
|
(Wert: 8.000,00 EUR) |
|
|
4. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
|
20,00 EUR |
|
Zwischensumme |
898,50 EUR |
|
5. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
|
170,72 EUR |
Gesamt |
|
1.069,22 EUR |
Gesamt I. + II. |
|
1.989,09 EUR |
Fordert der Anwalt dagegen die Verfahrensgebühr in voller Höhe ein, dann verringert sich die Geschäftsgebühr um 0,75, sodass er insoweit lediglich noch restliche 0,75 verlangen kann.
I. |
Gerichtliches Verfahren |
|
1. |
1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV |
|
652,60 EUR |
|
(Wert: 8.000,00 EUR) |
|
|
2. |
1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV |
|
602,40 EUR |
|
(Wert: 8.000,00 EUR) |
|
|
3. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
|
20,00 EUR |
|
Zwischensumme |
1.275,00 EUR |
|
4. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
|
242,25 EUR |
Gesamt |
|
1.517,25 EUR |
II. |
Außergerichtliche Vertretung |
|
1. |
1,5-Geschäftsgebühr, Nr. 2300 VV |
|
753,00 EUR |
|
(Wert: 8.000,00 EUR) |
|
|
2. |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV anzurechnen, |
|
– 376,50 EUR |
|
0,75 aus 8.000,00 EUR |
|
|
3. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
|
20,00 EUR |
|
Zwischensumme |
396,50 EUR |
|
4. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
|
75,34 EUR |
Gesamt |
|
471,84 EUR |
Gesamt I. + II. |
|
1.989,09 EUR |
Auf das Gesamtergebnis hat es also keinen Einfluss, welche Gebühr auf welche angerechnet wird.
Rz. 6
Besonders einprägsam lässt sich dies an einem Schaubild darstellen:
Beispiel 2: Wahlrecht bei der Anrechnung der Geschäftsgebühr nach Gegenstandswert (II)
Der Anwalt hatte außergerichtlich eine 1,3-Geschäftsgebühr (Nr. 2300 VV) verdient und im gerichtlichen Verfahren eine 1,3-Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV).
Er kann beide Gebühren verlangen, insgesamt aber nicht mehr als 1,95.
Beide Gebühren entstehen selbstständig. Bei der Schnittmenge von 0,65 handelt es sich sowohl um Geschäfts- als auch um Verfahrensgebühr, die nur einmal verlangt werden kann, wobei der Anwalt frei ist, ob er sie als Teil der Geschäftsgebühr oder als Teil der Verfahrensgebühr einfordert. Auf das Gesamtergebnis h...