Dr. iur. Robert Bauer, Dr. iur. Oliver Bertram
Rz. 379
"Leiharbeitnehmer wählen, zählen aber nicht"– dies war der vom BAG in ständiger Rechtsprechung entwickelte Grundsatz, nach dem Leiharbeitnehmer zwar im Entleiherbetrieb bei der Wahl eines Betriebsrats mitwählen dürfen, aber bei den Schwellenwerten der Betriebsverfassung nicht zu berücksichtigen sind, sondern nur Stammbeschäftigte, z.B. bei der Bestimmung der Größe des Betriebsrats (§ 9 BetrVG) oder der Anzahl der Freistellungen von dort gewählten Betriebsratsmitgliedern (§ 38 BetrVG). Das BAG formulierte in diesem Zusammenhang wörtlich:
Zitat
"Leiharbeitnehmer sind keine Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs. Sie sind daher bei der für die Anzahl der nach § 38 Abs. 1 BetrVG freizustellenden Betriebsratsmitglieder maßgeblichen Belegschaftsstärke nicht zu berücksichtigen."
Rz. 380
Die ganz überwiegende Ansicht im Schrifttum folgte dieser Auffassung. Das BAG ging dabei von der sog. Zwei-Komponenten-Lehre aus, nach der als "betriebszugehörig" im Sinne des BetrVG nur Arbeitnehmer angesehen werden, die in einem Arbeitsverhältnis zum Betriebsinhaber stehen und in die Betriebsorganisation des Arbeitgebers eingegliedert sind. Diese Voraussetzungen erfüllen Leiharbeitnehmer nicht. Denn die Arbeitnehmerüberlassung sei durch das Fehlen einer arbeitsvertraglichen Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Entleiher gekennzeichnet. Die tatsächliche Eingliederung in die Betriebsorganisation begründe nicht die Zugehörigkeit zum Entleiherbetrieb. Dies ergebe sich aus § 14 Abs. 1 AÜG a.F. Danach blieben Leiharbeitnehmer auch während der Zeit ihrer Arbeitsleistung bei einem Entleiher Angehörige des Verleiherbetriebs. Der tatsächlichen Eingliederung in den Betrieb des Entleihers habe der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass Leiharbeitnehmern nach § 14 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 AÜG einzelne betriebsverfassungsrechtliche Rechte im Entleiherbetrieb zustünden. Eine vollständige Betriebszugehörigkeit der Leiharbeitnehmer zum Entleiherbetrieb werde dadurch jedoch nicht begründet.
Rz. 381
Von dieser strengen Form der Zwei-Komponenten-Lehre ist das BAG inzwischen abgerückt. Deren "schleichender Niedergang" begann mit der Entscheidung vom 18.10.2011, in der der 1. Senat feststellte, dass bei der Ermittlung der maßgeblichen Unternehmensgröße gem. § 111 S. 1 BetrVG Leiharbeitnehmer, die länger als drei Monate im Unternehmen eingesetzt sind, mitzuzählen sind. Angesichts der unterschiedlichen Zwecke der Schwellenwerte in § 9 und § 111 BetrVG sei eine differenzierte Auslegung des Begriffs "wahlberechtigte Arbeitnehmer" geboten. Ebenso wie betriebsangehörige Mitarbeiter seien Leiharbeitnehmer bei der Feststellung der Belegschaftsstärke nach § 111 S. 1 BetrVG mitzuzählen, wenn sie zu den "in der Regel" Beschäftigten gehörten. Freilich hat sich der 1. Senat nicht ausdrücklich von der Zwei-Komponenten-Lehre distanziert oder diese gar aufgegeben, sondern nur auf ein unterschiedliches Verständnis des 7. Senats bei der Bestimmung des Schwellenwerts nach § 9 BetrVG ohne die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern hingewiesen.
Mit Beschl. v. 15.11.2011 entschied schließlich der 7. Senat, dass die in § 5 Abs. 1 S. 3 BetrVG genannten Beschäftigten bei den an die Belegschaftsstärke anknüpfenden organisatorischen Bestimmungen des BetrVG, etwa bei der Größe des Betriebsrats (§ 9 BetrVG) und bei der Anzahl der Freistellungen (§ 38 BetrVG), zu berücksichtigen ("mitzuzählen") sind. Dies ergebe eine am Wortlaut, an der Systematik und an Sinn und Zweck des § 5 Abs. 1 S. 3 BetrVG orientierte Auslegung, für die ebenso das teleologische Verständnis der in den organisatorischen Bestimmungen festgelegten Schwellenwerte streite. Die Entstehungsgeschichte von § 5 Abs. 1 S. 3 BetrVG stütze dieses Auslegungsergebnis, gegen das keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestünden. Im Streitfall war keine Entscheidung dazu erforderlich, ob die in § 5 Abs. 1 S. 3 BetrVG genannten Beschäftigten einschränkungslos bei allen Vorschriften, die auf die Anzahl der Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs abstellen, zu berücksichtigen oder ob etwa nach dem jeweiligen Zweck der Regelung Differenzierungen geboten sind. Auch der 7. Senat deutete allerdings nun an, dass dieser – zumindest gestützt auf die Besonderheiten, die sich aus § 5 Abs. 1 S. 3 BetrVG ergeben – nicht uneingeschränkt an der Zwei-Komponenten-Lehre festzuhalten beabsichtigt.
Am 5.12.2012 vollzog der 7. Senat schließlich die sich ankündigende Kehrtwende der Rechtsprechung und gab die reine Zwei-Komponenten-Lehre beim drittbezogenen Personaleinsatz auf. Diese führe bei einem solchen nicht zu sachgerechten Ergebnissen. Ihre uneingeschränkte Anwendung habe vielmehr zur Folge, dass der Arbeitnehmer einerseits dem Betrieb seines Vertragsarbeitgebers mangels Eingliederung nicht zugeordnet werden könne, während es andererseits zum "Betriebsarbeitgeber" an einem arbeitsvertraglichen Band fehle. In derartigen Fällen der aufgespaltenen Arbeitgeberstellung bedürfe es daher einer dif...