Dr. iur. Robert Bauer, Dr. iur. Oliver Bertram
Rz. 334
Wie weit der verfassungsrechtliche Rahmen des Gesetzgebers zur Ausgestaltung der Tarifautonomie reicht, ist noch weitgehend ungeklärt. Dies gilt umso mehr im Bereich des Arbeitskampfes, da sich der Gesetzgeber in diesem Bereich bislang sehr zurückgehalten hat.
a) Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers
Rz. 335
Der Gesetzgeber muss den Tarifvertragsparteien im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich nicht nur einen autonomen Bereich belassen. Ihn trifft vielmehr die Pflicht, ein funktionierendes Tarifvertragssystem zur Verfügung zu stellen. Er muss die Tarifautonomie so ausgestalten, dass es zwischen den Tarifvertragsparteien zu einem angemessenen Ausgleich kommen kann. Sind die Tarifvertragsparteien annähernd gleich stark, besteht hierzu eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Dieses Kräftegleichgewicht wird im Wesentlichen über den Arbeitskampf gesteuert. Häufig wird dies mit dem Begriff der erforderlichen "Kampfparität" umschrieben. Bei funktionsfähiger Tarifautonomie ergibt sich ein annäherndes Kräftegleichgewicht gerade aus der Möglichkeit, Arbeitskampfmittel zu ergreifen und auf einen Arbeitskampf zu reagieren. Problematisch ist die Situation, wenn ein Funktionsdefizit, also ein Kräfteungleichgewicht ausgemacht wird.
Rz. 336
Das BVerfG räumt dem Gesetzgeber hinsichtlich der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit zur Erreichung eines funktionsfähigen Systems eine weite Einschätzungsprärogative ein, welche es auch in seiner Entscheidung vom 19.6.2020 betont. Dies gilt auch für die Frage, ob das Kräftegleichgewicht der Tarifvertragsparteien gestört ist. Solange die Tarifautonomie als ein Bereich gewahrt bleibt, in dem die Tarifvertragsparteien ihre Angelegenheiten grundsätzlich selbstverantwortlich und ohne staatliche Einflussnahme regeln können, soll der Gesetzgeber nicht gehindert sein, die Rahmenbedingungen von Arbeitskämpfen zu ändern, insbesondere eine gestörte Parität wieder herzustellen. Dabei hat die Einschätzung des Gesetzgebers, der die politische Verantwortung trägt, Vorrang. Die Grenze ist erst dann überschritten, wenn sich deutlich abzeichnet, dass eine Fehleinschätzung vorliegt oder die Regelung von vorneherein darauf hinausläuft, ein vorhandenes Gleichgewicht der Kräfte zu stören oder ein Ungleichgewicht zu verstärken. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers ist damit denkbar weit, wenn auch nicht unbegrenzt.
b) Fehleinschätzung des Gesetzgebers?
Rz. 337
Immerhin normiert § 11 Abs. 5 AÜG ein generelles Einsatzverbot. Der Gesetzgeber unterscheidet nicht danach, ob in der konkreten Arbeitskampfsituation bereits eine Arbeitskampfdisparität zugunsten der Arbeitgeberseite besteht, welche durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern ausgelöst oder verstärkt würde. Er geht vielmehr scheinbar (stillschweigend) hiervon aus. Bis zuletzt bestand in Rechtsprechung und Literatur weitgehend Einigkeit, dass Funktionsdefizite der Tarifautonomie mit der Folge eines Kräfteungleichgewichtes nicht generell, sondern nur in bestimmten Bereichen, insbesondere im Niedriglohnsektor, bestehen. Ist demnach die Prämisse, dass die Tarifautonomie weitgehend funktionsfähig ist und damit die Gewerkschaften grundsätzlich sehr wohl (noch) in der Lage sind, durch die ihnen zur Verfügung stehenden Arbeitskampfmaßnahmen eine Kampfparität zu erreichen, wird diese annähernde Parität durch das Einsatzverbot von Leiharbeitnehmern offensichtlich zulasten der Entleiherbetriebe verschoben. Eine Rechtfertigung für einen generellen Eingriff ist zunächst nicht ersichtlich. Sieht der Gesetzgeber tatsächlich in bestimmten Bereichen oder Branchen eine Verschiebung der Parität zulasten der Gewerkschaften, die es durch das Einsatzverbot auszugleichen gilt, wäre es jedenfalls ein milderes Mittel, das Einsatzverbot entsprechend zu beschränken. Die damit einhergehende Fehleinschätzung des Gesetzgebers läge dann darin, dass er ein generelles Kräfteungleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien ausmacht, welches nicht besteht oder zumindest rechtswissenschaftlich noch nicht überzeugend dargelegt werden konnte. Auch wenn das Gesetz im Vergleich zum Referentenentwurf, der das Einsatzverbot auf den gesamten bestreikten Betrieb bezog, rechtlich teilweise entschärft wurde, können die Bedenken nicht ausgeräumt werden. Durch die Probleme in der Abgrenzung, welche Tätigkeiten zuvor von der Stammbelegschaft erledigt wurden, verbleibt es faktisch bei einem vollständigen Einsatzverbot.
Das BVerfG hat sich diese Kritik nicht zu eigen gemacht. Es geht davon aus, dass den Gesetzgeber keine von der materiellen Verfassungsmäßigkeit unabhängige Sachaufklärungspfl...