Dr. iur. Robert Bauer, Dr. iur. Oliver Bertram
Rz. 297
Das Einsatzverbot von Leiharbeitnehmern greift nur, soweit der Leiharbeitnehmer Tätigkeiten übernehmen soll, die streikbedingt ausfallen. Dies folgt aus § 11 Abs. 5 S. 2 AÜG, der das Einsatzverbot dann ausschließt, wenn eine Übernahme solcher Tätigkeiten nicht erfolgt. Durch den Begriff der "Übernahme" ist klargestellt, dass das Einsatzverbot nicht allgemein tätigkeitsbezogen gilt, sondern nur wenn der Leiharbeitnehmer mit Tätigkeiten befasst wird, deren streikbedingten Ausfall er kompensieren würde. Daher greift das Einsatzverbot nicht, wenn der Leiharbeitnehmer zwar mit derartigen Tätigkeiten befasst ist, dies jedoch auch bereits zuvor der Fall war. Denn dann "übernimmt" er keine streikbedingt ausgefallene Tätigkeit, er führt sie schlicht fort. Maßgeblich ist, ob der Leiharbeitnehmer als Ersatzkraft eingesetzt wird und so streikbedingt ausgefallene Tätigkeiten auffängt. Zwar ist die Vorschrift tätigkeits- und nicht arbeitsplatzbezogen. Maßgeblich ist damit die konkrete Tätigkeit und nicht der gesamte Arbeitsplatz. Auch sind alle Tätigkeiten, aus denen sich der Arbeitsplatz zusammensetzt, einzeln zu bewerten. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm, der von "Tätigkeiten" spricht. Der Entleiher muss damit im Grundsatz jede einzelne Tätigkeit der Leiharbeitnehmer dahingehend überprüfen und abgleichen, inwieweit diese Tätigkeit bisher von einem im Streik befindlichen Arbeitnehmer oder einem intern "in der Kette" eingesetzten Arbeitnehmer erledigt wurde und streikbedingt entfallen ist. Eine Abgrenzung von einzelnen Tätigkeiten ist häufig nur sehr schwer möglich, oft überschneiden sie sich. Nicht selten wird es zu eigenverantwortlichen spontanen und vorübergehenden Tätigkeitserweiterungen durch den Leiharbeitnehmer kommen, die vom Entleiher – zumal in der Situation des Arbeitskampfes – nicht zu kontrollieren sind. Problematisch ist eine Abgrenzung auch dann, wenn von mehreren Mitarbeitern mit gleichen Tätigkeiten einige streiken, andere bspw. urlaubs- oder krankheitsbedingt fehlen. Trotz der tätigkeitsbezogenen Sichtweise und Abgrenzung ist es im Ergebnis dann nicht als Übernahme einer streikbedingt ausgefallenen Tätigkeit zu qualifizieren, wenn die vom Leiharbeitnehmer verrichtete Tätigkeit nicht einen streikbedingten Ausfall kompensiert.
Wenn der Gesetzgeber mit der Regelung des § 11 Abs. 5 AÜG bezweckt, den Einsatz von Leiharbeitnehmern zum "Streikbruch" zu unterbinden, wird man auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gehalten sein, das Einsatzverbot unbeschadet der weitgehenden Formulierung von § 11 Abs. 5 S. 2 AÜG auf ihren eigentlichen Kern zurückzuführen. Der Zweck des Einsatzverbotes würde ausgeblendet, wenn jeder einzelne Ausschnitt einer durch den Arbeitskampf ausgefallenen Tätigkeit allgemein nicht mehr von einem Leiharbeitnehmer verrichtet werden dürfte. Es ist vielmehr entscheidend, ob der Leiharbeitnehmer als "Ersatzkraft" für die arbeitskampfbedingt ausgefallene Tätigkeit eingesetzt ist und damit die Streikfolgen kompensiert. Denn nur dann handelt es sich um "echten" Streikbruch. Es muss sich dabei um den Kern derjenigen Tätigkeit handeln, die von dem streikenden Kollegen – bzw. dessen interner Ersatzkraft – zuvor erledigt wurde.
Beispiel
Streiken einige Mitarbeiter der Buchhaltung, andere nicht, so kann der Leiharbeitnehmer, der bereits zuvor in der Buchhaltung tätig war, weiterhin dort eingesetzt werden. Dies gilt auch dann, wenn die streikenden Stammarbeitskräfte solche Tätigkeiten verrichtet haben, wie sie der Leiharbeitnehmer ausübt. Denn der Einsatz des Leiharbeitnehmers erfolgt in einer solchen Konstellation gerade nicht zum "Streikbruch"; er "übernimmt" keine streikbedingt ausgefallenen Tätigkeiten. Auch werden die negativen Streikfolgen für den Arbeitgeber durch die Weiterbeschäftigung eines solchen Leiharbeitnehmers nicht gemindert. Es ist nicht Sinn und Zweck des § 11 Abs. 5 AÜG und dem dort normierten Einsatzverbot den arbeitskampfbedingten Ausfall von Tätigkeiten noch zu erweitern.