Dr. iur. Robert Bauer, Dr. iur. Oliver Bertram
Rz. 115
Die Tariföffnungsklausel in § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG differenziert nicht zwischen normativ geltenden und lediglich nachwirkenden Tarifverträgen. Grundsätzlich wirken auch Betriebsnormen, wie sie Abweichungen von der Überlassungshöchstdauer darstellen (hierzu oben Rdn 107, 113), gemäß § 4 Abs. 5 TVG nach, wenn die Tarifvertragsparteien nichts Abweichendes vereinbaren. Ob und unter welchen Voraussetzungen sich die Nachwirkung auch auf Tarifnormen erstreckt, die von tarifdispositivem Gesetzesrecht abweichen, ist hingegen noch nicht abschließend geklärt. Die wohl herrschende Meinung im tarifrechtlichen Schrifttum geht davon aus, dass auch nachwirkende Tarifverträge dispositives Gesetzesrecht verdrängen. Dies entspricht auch der überwiegenden Auffassung in der Literatur zur Tarifdisposivität des Equal-Pay-Grundsatzes. Unter Zugrundelegung dieser herrschenden Meinung kann auch ein nachwirkender Tarifvertrag eine Abweichung von der Überlassungshöchstdauer rechtfertigen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Entleiher vor Eintritt der Nachwirkung normativ an den Tarifvertrag gebunden war. Nachwirkende Betriebsnormen erfassen nur solche Betriebe, die während der Laufzeit des Tarifvertrags von der Tarifgeltung erfasst worden sind. Es genügt daher nicht, wenn der Entleiher erst nach Eintritt des Nachwirkungsstadiums in den tarifschließenden Arbeitgeberverband eintritt.
Rz. 116
Beispiel
Das Unternehmen U1 ist an die einschlägigen Verbandstarifverträge gebunden. In einem Leiharbeitstarifvertrag sind Regelungen zu einer Verlängerung der Überlassungshöchstdauer sowie Quoten für den Einsatz von Leiharbeitnehmern vorgesehen. Der Leiharbeitstarifvertrag läuft zum 31.12. aus, ohne dass eine neue tarifliche Regelung getroffen wird. Das Unternehmen U2 war bislang nicht tarifgebunden und tritt dem tarifschließenden Arbeitgeberverband erst mit Wirkung zum 31.3. des Folgejahres bei.
Das Unternehmen U1 kann für die Dauer der Nachwirkung des Leiharbeitstarifvertrags weiter von der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer abweichen. Auf das Unternehmen U2 findet der nachwirkende Tarifvertrag hingegen keine Anwendung, sodass die gesetzlichen Regelungen zur Überlassungshöchstdauer gelten.
Rz. 117
Insbesondere wenn der Tarifvertrag neben der Abweichungsmöglichkeit von der Überlassungsdauer auch weitergehende Regelungen, wie z.B. die Einsatzquoten im vorstehenden Beispiel, enthält, kann sich aus Entleihersicht das Bedürfnis ergeben, auch ohne eine tarifliche Neuregelung von dem nachwirkenden Leiharbeitstarifvertrag abzuweichen. § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG gestattet jedoch lediglich eine Abweichung durch oder aufgrund eines Tarifvertrags, sodass einer Ablösung der nachwirkenden Tarifnormen durch Betriebsvereinbarung die fehlende Regelungskompetenz des Betriebsrats entgegenstehen dürfte. In Betracht käme daher allenfalls eine Betriebsvereinbarung, mit der eine Rückkehr zum gesetzlichen "Normalzustand" geregelt würde. Erzwingbar wäre eine solche Regelung aber wohl nicht, sodass der Entleiher auf die Mitwirkung des Betriebsrats angewiesen wäre. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Nachwirkung eines Tarifvertrags im Sinne des § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG nicht zeitlich begrenzt sein muss, um eine Endlosbindung zu vermeiden. Im Zusammenhang mit der Tarifdispositivität des Gleichstellungsgrundsatzes vertreten die Bundesagentur für Arbeit und Teile des Schrifttums die Auffassung, dass die Nachwirkung ende, sobald der Abschluss eines neuen Tarifvertrages nicht mehr in Aussicht stehe, wofür der Ablauf eines Jahres ein Indiz darstelle. Letztlich findet sich für eine derartige Begrenzung der Nachwirkung jedoch kein Anhaltspunkt im Gesetzeswortlaut. Vor diesem Hintergrund tun die Tarifvertragsparteien gut daran, die Frage der Nachwirkung des Tarifvertrags ausdrücklich zu regeln, um Streitigkeiten hierüber zu vermeiden.