Dr. iur. Robert Bauer, Dr. iur. Oliver Bertram
I. Rechtslage bis zum 1.4.2017
Rz. 249
In § 9 Nr. 1 AÜG a.F. ist für die illegale Arbeitnehmerüberlassung geregelt, dass Verträge zwischen dem Verleiher und dem Entleiher und zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer unwirksam sind. Nach § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG a.F. wird in diesem Fall ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem Leiharbeitnehmer fingiert. Die Vorschrift dient dabei insbesondere der sozialen Absicherung des Leiharbeitnehmers, der ohne die Fiktionswirkung aufgrund der Anordnung der Unwirksamkeit des mit dem Verleiher bestehenden Arbeitsvertrags in § 9 Nr. 1 AÜG a.F. wegen der von diesem betriebenen unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung ohne einen Vertragspartner stünde. Die Folgen und Sanktionen der illegalen Arbeitnehmerüberlassung sollen dabei aber in erster Linie den Verleiher und den Entleiher als "Organisatoren" des gesetzeswidrigen Einsatzes des Leiharbeitnehmers treffen und nicht diesen selbst. Diesem sollen als Ausgleich für den Verlust seiner Ansprüche gegen den Verleiher vielmehr gleichwertige Ansprüche gegen den Entleiher gewährt werden. Wesentlich ist, dass die Fiktionswirkung des § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG a.F. unabhängig von dem Willen des betroffenen Arbeitnehmers und – natürlich – des Entleihers und des Verleihers eintritt; der Arbeitgeberwechsel erfolgt – auch ohne Kenntnis des Leiharbeitnehmers, des Entleihers und/oder Verleihers – kraft gesetzlicher Anordnung und ist zwingend.
Problematisch war nach der alten Rechtslage, dass zumindest Konstellationen denkbar waren, in denen die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zwischen dem Entleiher und dem Leiharbeitnehmer nicht dessen Schutzinteressen entsprochen hat, z.B.
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wenn sich das entleihende Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet, die sich darin manifestieren, dass im Zweifel schon ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde oder ein solches kurz bevorsteht, |
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wenn es sich bei dem Entleiher um einen Kleinbetrieb nach § 23 KSchG handelt, in dem der Leiharbeitnehmer – anders als bei dem Verleiher – keinen Kündigungsschutz genießt, |
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wenn die Arbeitskonditionen bei dem Verleiher – ggf. aufgrund der hohen Seniorität des Leiharbeitnehmers – günstiger sind als bei dem Entleiher. |
Vor diesem Hintergrund gab es bereits in der Vergangenheit Ansätze, dem Leiharbeitnehmer unter Hinweis auf verfassungsrechtliche Erwägungen (Art. 12 GG) im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung ein Widerspruchsrecht gegen die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher nach § 10 Abs. 1 AÜG a.F. zu gewähren. Die h.M. hat ein solches, weil so im Gesetz nicht vorgesehen, freilich abgelehnt. Nach einer anderen Ansicht sollte der Leiharbeitnehmer aufgrund des Eingriffs in die freie Wahl des Arbeitsplatzes das fingierte Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher gem. § 626 BGB außerordentlich kündigen können. Das BAG hat diese Frage nicht abschließend entscheiden müssen, jedoch auf die verfassungsrechtlichen Problematiken bei der Fiktionswirkung nach § 10 Abs. 1 AÜG a.F. hingewiesen. Wörtlich heißt es in einer Entscheidung vom 20.1.2016 zu dem "Prüfprogramm" des LAG Baden-Württemberg, an das die Sache zurückverwiesen wurde:
Zitat
"Allerdings konnten die Rechtsfolgen der § 9 Nr. 1, § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG nur eintreten, wenn diese Regelungen verfassungskonform sind, was von der Klägerin in Zweifel gezogen wird. Es wird daher ggf. zu prüfen sein, ob die in § 9 Nr. 1, § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG angeordneten Rechtsfolgen mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar sind, obwohl dem Arbeitnehmer nicht die Möglichkeit eingeräumt ist, dem Arbeitgeberwechsel zu widersprechen […]. In diesem Zusammenhang wird das Landesarbeitsgericht ggf. sämtliche Möglichkeiten einer verfassungskonformen Auslegung in Betracht zu ziehen haben. Dabei könnte zu erwägen sein, ob den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG dadurch Rechnung getragen werden kann, dass der Arbeitnehmer die in § 9 Nr. 1, § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG angeordneten Rechtsfolgen durch Ausübung eines Leistungsverweigerungsrechts bis zur Erfüllung der Informations- und Nachweispflichten des Verleihers nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AÜG verhindern kann."
Rz. 250
In einer Entscheidung zu den Rechtsfolgen einer nicht mehr vorübergehenden Überlassung nach § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG a.F. hat das BAG bzgl. der von dem klagenden Leiharbeitnehmer geltend gemachten Fiktion eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher ebenfalls ausgeführt, dass die Auswechslung des Arbeitgebers verfassungsrechtlich bedenklich ist. Der Entzug des vom Leiharbeitnehmer gewählten Arbeitgebers durch Gesetz stelle einen Eingriff in seine durch Art. 12 GG geschützte Rechtsposition dar. Die Freiheit, ein Arbeitsverhältnis einzugehen oder dies zu unterlassen, sei Ausdruck der durch Art. 12 GG geschützten Vertragsfreiheit. In diese werde eingegriffen, wenn ohne die zu einem Vertragsschluss erforderlichen beiderseitig übereinstimmenden Willenserklärungen oder gar gegen den Willen einer oder auch beider Partei/-en kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis begründet werden solle. Im...