1. Verkaufspreis als vorrangiger Bewertungsmaßstab

 

Rz. 90

In der Regel wird der gemeine Wert eines Vermögensgegenstands seinem Verkehrswert und somit dem Normalverkaufswert entsprechen.[282] Unter Normalverkaufswert ist derjenige Preis zu verstehen, der unter normalen Marktbedingungen von jedem Marktteilnehmer erzielt werden könnte.[283]

 

Rz. 91

Ausnahmen gelten aber bei Vorliegen sog. Marktanomalien, wie z.B. dem Zusammenbruch des Berliner Grundstücksmarktes aufgrund des Chruschtschow-Ultimatums[284] oder in Zeiten der Inflation. Dann ist eine Identität des wahren Wertes eines Vermögensgegenstands mit seinem derzeit erzielbaren Verkaufspreis nicht gegeben.[285] Das soll auch für sog. Schwarzmarktpreise[286] gelten. In derartigen Fällen stellt die Rechtsprechung auf den sog. inneren oder wahren Wert ab,[287] wobei der BGH[288] aber später betont hat, dass es sich insoweit lediglich um eine "Denkfigur" handele, für deren Anwendung unter gewöhnlichen Umständen kein Raum sei.[289] Im Übrigen ist anzumerken, dass nach der Rechtsprechung die Anwendung des inneren Wertes stets nur zu einer Begünstigung, nie aber zu einer Benachteiligung des Pflichtteilsberechtigten führt.[290]

 

Rz. 92

Soweit der gemeine Wert dem Normalverkaufspreis entspricht,[291] ist dessen Feststellung in der Praxis oft nicht ohne weiteres möglich. Selbst ein relativ kurz nach dem Erbfall erzielter Veräußerungspreis muss nicht zwingend mit dem Normalverkaufspreis des jeweiligen Gegenstands identisch sein.[292] Denn sowohl ein kollusives Zusammenwirken des Erben mit dem Käufer als auch individuelle Absichten des Käufers, auf die der Erbe keinen Einfluss hat bzw. von denen er nicht einmal Kenntnis haben muss (Spekulation, Affektionsinteresse, Sammelleidenschaft etc.), können auf den erzielbaren Kaufpreis immensen Einfluss haben.[293]

 

Rz. 93

Sofern ein Nachlassgegenstand relativ bald nach dem Erbfall veräußert wird, orientiert sich die Rechtsprechung (trotz der angesprochenen Schwierigkeiten) i.d.R. an den tatsächlich erzielten Veräußerungspreisen.[294] Sie sieht diese grundsätzlich als verlässlichste Bewertungsgrundlage an und zieht sie daher jeder Art der Schätzung nach allgemeinen Erfahrungswerten vor.[295] Der BGH geht sogar so weit, im Rahmen eines Versteigerungsverfahrens oder einer Liquidation erzielte Erlöse als maßgeblich anzusehen[296] und begründet dies damit, dass der tatsächlich erzielte Veräußerungserlös bei einer zeitnahen Veräußerung eine relativ gesicherte Ebene darstelle, deren Verlassen im erbrechtlichen Bewertungsrecht grundsätzlich nicht gerechtfertigt sei.[297] Eine Ausnahme hiervon gilt aber, wenn der insoweit darlegungs- und beweispflichtige Pflichtteilsberechtigte Tatsachen vorträgt und unter Beweis stellt, nach welchen der Verkaufserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspricht.[298]

 

Rz. 94

Im Übrigen ist die Preisentwicklung zwischen dem Zeitpunkt des Erbfalles und dem Zeitpunkt der Realisierung des Veräußerungspreises durch entsprechende Korrekturen zu berücksichtigen.[299] Angefallene Veräußerungskosten sind von dem Verkaufserlös in Abzug zu bringen.[300] Hierzu zählen z.B. die Maklercourtage bei der Veräußerung eines Grundstücks, die Kosten für die Schaltung von Anzeigen oder auch eventuell erforderlich werdende Beurkundungskosten.[301] Veräußerungskosten sind nicht nur im Falle der tatsächlichen Veräußerung von Nachlassgegenständen in die Bewertung einzubeziehen. Vielmehr müssen sie auch dann berücksichtigt werden, wenn die Bewertung auf der Grundlage eines fiktiven (Normal-)Verkaufspreises erfolgt. Maßgebend ist allein der fiktive Nettoerlös.[302]

[282] Meincke, Nachlassbewertung, S. 187; J. Mayer, ZEV 1994, 331, 336 m.w.N.; OLG Düsseldorf v. 27.5.1994 – 7 U 136/93, ZEV 1994, 361.
[283] Kerscher/Riedel/Lenz, Pflichtteilsrecht, § 7 Rn 32.
[284] BGH v. 31.5.1965 – III ZR 214/63, NJW 1965, 1589, 1590.
[285] Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 89.
[286] BGH v. 24.1.1952 – III ZR 192/50, BGHZ 5, 12, 21; BGH v. 23.11.1962 – V ZR 148/60, JZ 1963, 320; OLG Hamburg v. 20.4.1950 – 3 U 133/49, MDR 1950, 420, 422; Kummer, ZEV 1995, 319, 321; Meincke, Nachlassbewertung, S. 149.
[287] BGH v. 24.1.1952 – III ZR 192/50, BGHZ 5, 12, 21; BGH v. 23.11.1962 – V ZR 148/60, JZ 1963, 320; OLG Hamburg v. 20.4.1950 – 3 U 133/49, MDR 1950, 420, 422.
[289] So auch Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 89; Damrau/Tanck/Riedel, § 2311 Rn 82.
[290] BGH v. 13.3.1991 – IV ZR 52/90, NJW-RR 1991, 900; Damrau/Tanck/Riedel, § 2311 Rn 82.
[291] Damrau/Tanck/Riedel, § 2311 Rn 83.
[292] BGH v. 25.3.1954 – IV ZR 146/53, BGHZ 13, 45, 47 = NJW 1954, 1037; Müller, JuS 1973, 603, 605 f.; Barthel, DB 1990, 1145, 1146; Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 102.
[293] Vgl. z.B. BGH v. 4.7.1975 – IV ZR 3/74, WM 1975, 860, 861; Barthel, DB 1990, 1145, 1146; Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 102 m.w.N.

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