Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 225
Die Prozessparteien müssen sich über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß erklären, § 138 Abs. 1 ZPO. Die Wahrheitspflicht bezieht sich (nur) auf tatsächliche Umstände, also auf konkrete Zustände oder Vorgänge der Außenwelt oder des Seelenlebens, wie z.B. Kenntnisse oder Wahrnehmungen. Reine Werturteile und Rechtsauffassungen fallen nicht darunter. Genau besagt die Wahrheitspflicht die Pflicht zur subjektiven Wahrhaftigkeit im Sinne eines Verbots der wissentlichen Falschaussage, erstreckt sich auf Behauptung und Bestreiten tatsächlicher Umstände und umfasst Folgendes:
a) Keine Lügen
Rz. 226
Die Parteien dürfen im gesamten Prozess nicht bewusst unwahr oder wider besseres Wissen vortragen. Sie dürfen also nicht lügen. Rechtsanwälte dürfen die als unwahr erkannten Äußerungen ihrer Mandanten nicht weitergeben. Erkennt das Gericht, dass eine Partei falsch vorträgt, wird dieser Tatsachenvortrag nicht beachtet, ggf. im Rahmen einer Gesamtwürdigung nachteilig behandelt und schlimmstenfalls kann das Gericht die Akte der Staatsanwaltschaft zur Aufnahme von Ermittlungen wegen Bestehens eines Anfangsverdachts auf versuchten Betrug vorlegen.
b) Vollständer Vortrag
Rz. 227
Es ist vollständig vorzutragen. Halbwahrheiten sind verboten. Jedoch ist keine Partei verpflichtet, dem Gegner Tatsachen für einen Gegenanspruch, für eine Einrede oder für eine Einwendung gegen den eigenen Anspruch zu offenbaren.
c) Keine Behauptungen "ins Blaue hinein"
Rz. 228
Unzulässig ist, willkürlich "ins Blaue hinein" Vermutungen als Behauptungen vorzutragen. Willkür liegt beim Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vor. Tatsachen, die nach Lage der Dinge wahrscheinlich sind, dürfen vorgetragen werden. Dasselbe gilt, wenn der Partei lediglich die besondere Fachkenntnis fehlt.
d) Hilfsweises Vorbringen
Rz. 229
Die Parteien können sich für den Fall, dass ihre Behauptungen nicht beweisbar sind, hilfsweise auf Behauptungen der anderen Seite stützen, auch wenn dies dem Hauptvorbringen widerspricht. Wenn das Gericht in seiner Entscheidung indes das Hauptvorbringen zugrunde legt, dieses jedoch rechtlich nicht zum angestrebten Erfolg führt, kommt es auf das – mit dem tatsächlichen Hauptvorbringen unvereinbare – Hilfsvorbringen nicht mehr an.
e) Grenzen der Wahrheitspflicht
Rz. 230
Die Wahrheitspflicht ist begrenzt. Von keiner Partei wird Unzumutbares verlangt. Keine Partei braucht so vorzutragen, dass sie befürchten muss, sich damit der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Und der Rechtsanwalt darf nichts vortragen, womit er den Mandanten des Prozessbetrugs bezichtigen würde.