Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 297
Bei Beweiserleichterungen durch Rechtsvermutungen handelt es sich zunächst um Tatsachenvermutungen, etwa § 938 BGB, welcher die Vermutung des Eigenbesitzes regelt:
Hat jemand eine Sache am Anfang und am Ende eines Zeitraums im Eigenbesitz gehabt, so wird vermutet, dass sein Eigenbesitz auch in der Zwischenzeit bestanden habe.
Rz. 298
Eine Rechtsvermutung enthält z.B. § 1006 Abs. 1 BGB:
Zugunsten des Besitzers einer beweglichen Sache wird vermutet, dass er Eigentümer der Sache sei. Dies gilt jedoch nicht einem früheren Besitzer gegenüber, dem die Sache gestohlen worden, verlorengegangen oder sonst abhandengekommen ist, es sei denn, dass es sich um Geld oder Inhaberpapiere handelt.
Rz. 299
Eine richterrechtliche Tatsachenvermutung ist beispielsweise, dass die über ein Rechtsgeschäft verfasste Urkunde vollständig und richtig ist. Daher hat auch die Partei, welche ein ihr günstiges Auslegungsergebnis auf Umstände außerhalb der Urkunde stützt, diese zu beweisen.
Rz. 300
Gemäß § 292 S. 1 ZPO ist aber, wenn das Gesetz für das Vorhandensein einer Tatsache eine Vermutung aufstellt, der Beweis des Gegenteils zulässig. Diesen Beweis muss derjenige erbringen, welcher Rechte aus der Unrichtigkeit der Vermutung ableitet. Wichtig ist, dass der Beweis des Gegenteils erst geboten ist, wenn der Gegner den Hauptbeweis für die Voraussetzungen der gesetzlichen Vermutung erbracht hat. Der Beweis ist mit allen in §§ 371 bis 455 ZPO aufgeführten Beweismitteln zulässig und kann auch mittels eines Antrags auf Parteivernehmung nach § 445 ZPO geführt werden, § 292 S. 2 ZPO. Will eine Partei den Gegenteilsbeweis führen, kommen ihr allgemeine Beweiserleichterungen ebenfalls zugute.
Rz. 301
Allerdings genügt eine bloße Erschütterung der gesetzlichen Vermutung durch Beweis ihrer möglichen Unrichtigkeit nicht. Erforderlich ist der volle Beweis des Gegenteils der gesetzlichen Vermutung. Das Gericht muss deshalb im Rahmen einer freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) die Überzeugung vom Gegenteil der Vermutung gewinnen.
Rz. 302
Der Beweis des Gegenteils ist allerdings nicht möglich, sofern das Gesetz dies vorschreibt, § 292 S. 1 ZPO. Ausgeschlossen ist der Beweis des Gegenteils gegenüber gesetzlichen Fiktionen, beispielsweise nach §§ 892, 893, 1138, 1155 BGB, 39, 267, 547, 755 ZPO.