Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 426
Das selbstständige Beweisverfahren (§§ 485 ff. ZPO) ist eine eigene, prozesskostengünstige Verfahrensart, welche bei bestimmten Konstellationen geeignet ist, einen kostspieligen, lang dauernden Prozess zu vermeiden, indem über die Kernfrage der Auseinandersetzung der Parteien ein gerichtliches Gutachten eingeholt wird. Scheitert gleichwohl eine abschließende Regelung der Kontrahenten, kann anschließend immer noch geklagt und das Hauptsacheverfahren betrieben werden.
I. Zweck und Vorteil des selbstständigen Beweisverfahrens
Rz. 427
Steht der Aufwand für die Beseitigung eines Personen- oder Sachschadens oder eines Sachmangels oder deren Ursache nicht fest, kann der Antragsteller diesen im Rahmen des selbstständigen Beweisverfahrens feststellen lassen. Der Antragsteller kann mit dieser Verfahrensart die Verjährung hemmen, § 204 Abs. 1 Nr. 7 BGB. Auch ist eine Streitverkündung möglich.
Rz. 428
Im späteren Prozess steht dem Antragsteller das Ergebnis der selbstständigen Beweiserhebung mit Bindungswirkung zur Verfügung. Es steht einer Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht gleich, § 493 Abs. 1 ZPO. Möglich ist, dass der Antragsteller oder der Antragsgegner sich nach Vorlage des Beweisergebnisses nicht mehr auf einen Rechtsstreit einlassen will. Das selbstständige Beweisverfahren ist dann kostengünstiger als ein Klageverfahren. Nach Nr. 1610 Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 Kostenverzeichnis entsteht eine einfache Gerichtsgebühr. Üblicherweise entscheidet das Gericht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung, § 490 Abs. 1 ZPO. Damit fällt regelmäßig keine anwaltliche Terminsgebühr nach Nr. 3104 VV RVG an. Das Gericht kann aber die Parteien gemäß § 492 Abs. 3 ZPO laden. Dann ist die 1,2 Terminsgebühr abzurechnen. Hinzu kommen auch noch die Kosten der Beweisaufnahme, z.B. Sachverständigenkosten.
Rz. 429
Weil durch den Antrag auf selbstständiges Beweisverfahren nur die Verjährung wegen der Mängel gehemmt wird, die im Antrag aufgeführt sind, ist der Antrag so umfangreich wie erforderlich zu formulieren. Außerdem ist die Erheblichkeit für die geltend gemachte Forderung festzuhalten, weil die Verjährung nur gehemmt wird, wenn die Tatsachenbehauptung wenigstens ein Indiz für den Anspruch ist.
II. Antragsvoraussetzungen
Rz. 430
Wenn noch kein Rechtsstreit anhängig ist, genügt nach § 485 Abs. 2 S. 1 ZPO für eine schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen im selbstständigen Beweisverfahren ein rechtliches Interesse an der Feststellung, nämlich:
▪ |
des Zustandes einer Person oder des Zustandes oder Wertes einer Sache, |
▪ |
der Ursache eines Personenschadens, Sachschadens oder Sachmangels oder |
▪ |
des Aufwandes für die Beseitigung des Schadens oder Mangels. |
Rz. 431
Das rechtliche Interesse wird weit ausgelegt. Es ist schon gegeben, wenn der Zustand der Sache die Grundlage einer beliebigen Forderung des Antragstellers oder eines anderen gegen ihn bilden kann. Das rechtliche Interesse ist anzunehmen, wenn die Feststellungen der Vermeidung eines Rechtsstreites dienen können (§ 485 Abs. 2 S. 2 ZPO).
Rz. 432
Während oder außerhalb eines Streitverfahrens kann gemäß § 485 Abs. 1 ZPO die Einnahme des Augenscheins, die Vernehmung von Zeugen oder die Begutachtung durch einen Sachverständigen angeordnet werden, wenn der Gegner zustimmt oder zu besorgen ist, dass das Beweismittel verlorengeht oder seine Benutzung erschwert wird. In einem anhängigen Prozess kann das selbstständige Beweisverfahren von Bedeutung sein, wenn das Prozessgericht noch keine Beweisaufnahme beschlossen hat oder keine Beweisaufnahme durchführen kann, etwa wegen der Aussetzung des Hauptverfahrens.
Rz. 433
Der drohende Verlust eines Beweismittels oder dessen Erschwerung kann der Fall sein bei:
▪ |
hohem Alter eines Zeugen, |
▪ |
einer gefährlichen Erkrankung eines Zeugen, |
▪ |
einer später erheblichen Verteuerung der Beweisaufnahme oder |
▪ |
bei dem Verderb einer Sache oder ihrer Veränderung, |
▪ |
bei einer beabsichtigten (notwendigen und nicht aufschiebbaren) Beseitigung von Mängeln. |
III. Antragsinhalt
Rz. 434
Gemäß § 486 ZPO ist das zuständige Gericht zu ermitteln.
Rz. 435
Der Antragsinhalt ergibt sich aus § 487 ZPO. Der Gegner ist zu bezeichnen, § 487 Nr. 1 ZPO. Ist der Gegner unbekannt, ist der Antrag nach § 494 Abs. 1 ZPO nur zulässig, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass er ohne sein Verschulden außerstande ist, den Gegner zu bezeichnen.
Rz. 436
Über den Antrag entscheidet das Gericht – nachdem es dem Antragsgegner rechtliches Gehör gewährt hat – durch Beschluss, § 490 Abs. 1 ZPO.
1. Tatsachenvortrag
Rz. 437
Die Tatsachen, über die Beweis erhoben werden soll, sind zu bezeichnen. In zumutbarem Umfang sind Behauptungen über den beweisbedürftigen Zustand der Sache oder Person aufzustellen. Die Angabe in groben Zügen genügt. Für die Verständlichkeit des Antrags ist es zweckmäßig, den Anspruchsgrund kurz darzustellen. Zum Mindestmaß des erforderlichen Vortrags hat der BGH entschieden:
Zitat
"Das geforderte minimale Maß an Substantiierung hinsichtlich der gemäß § 487 Nr. 2 ZPO zu bezeichnenden Beweistatsachen ist jedenfalls dann nicht erreicht, wenn der Antragsteller in lediglich formelhafter und pa...