1. Allgemeines
Rz. 105
Die Regelung des § 2038 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BGB ist im Wesentlichen deckungsgleich mit § 744 Abs. 2 S. 1 BGB. Sie soll die Handlungsfähigkeit der Erbengemeinschaft in besonderen Ausnahmefällen gewährleisten. "Zur Erhaltung notwendig" ist eine Maßregel, wenn ohne sie der Nachlass insgesamt oder Teile hiervon Schaden nehmen würden. Notwendige Maßregeln sind zwangsläufig gleichzeitig Maßnahmen ordnungsgemäßer Verwaltung. Entspricht eine Maßnahme nach billigem Ermessen schon nicht der Beschaffenheit des betreffenden Nachlassgegenstandes oder/und nicht dem Interesse aller Miterben (ordentliche Verwaltung), so kann sie erst recht nicht ein Fall der notwendigen Verwaltung sein. Daher müssen zunächst die Voraussetzungen der ordnungsgemäßen Verwaltung vorliegen. Bei der Entscheidung, ob (lediglich) ein Fall der ordnungsgemäßen Verwaltung oder ein Fall der Notverwaltung vorliegt, kommt es nicht allein darauf an, ob die Maßnahme derart dringlich ist, dass sie keinen weiteren Aufschub duldet. Vielmehr ist der Eingriff in das Recht der übrigen Miterben zu beurteilen und zu beachten, wie weit sie daran interessiert sein könnten, an der Maßregel mitzuwirken: Ist die Maßregel für die Erhaltung des Nachlasses erforderlich und wirkt sich die Maßregel auf den übrigen Nachlass nur gering und auf die anderen Miterben nur unbedeutend aus, so ist das Interesse an einer Mitwirkung nur sehr gering. Die Maßnahme kann dann notwendig i.S.v. Abs. 1 S. 2 Hs. 2 sein, obwohl sie ohne Gefahr aufgeschoben und die Zustimmung der Erben eingeholt werden könnte.
Rz. 106
Ebenso wie bei der ordnungsgemäßen Verwaltung kommt es auch hier auf den Standpunkt eines vernünftig und wirtschaftlich denkenden Beurteilers zu dem Zeitpunkt an, an dem die Handlung vorgenommen werden soll. Zu beachten bleibt aber unbedingt, dass die Maßnahme zur Erhaltung des Nachlasses erforderlich sein muss. Liegt bereits diese Voraussetzung nicht vor, handelt es sich nicht um einen Fall der Notverwaltung, selbst wenn die Beeinträchtigung des Nachlasses und der Miterben gering ist.
Rz. 107
Die Vorschrift ist eng auszulegen, da sie andernfalls die übrigen Regelungen des Einstimmigkeits- bzw. Mehrheitsprinzips aushöhlen würde. Soweit ohne weitere objektive Gefährdung des Nachlasses oder Teilen davon eine Zustimmung der Erben eingeholt werden kann, liegt kein Fall der Notverwaltung vor. Handelt es sich um eine bedeutsame Maßnahme, durch die erhebliche Verpflichtungen für den Nachlass oder die anderen Miterben begründet werden, ist die Maßnahme nur dann notwendig, wenn sie so dringend ist, dass die Zustimmung der anderen Miterben nicht eingeholt werden kann, ohne den Nachlass zu gefährden.
Rz. 108
Wurde ein Beschluss von den Miterben mit Stimmenmehrheit gem. §§ 2038 Abs. 2, 745 BGB gefasst, kann dieser Beschluss nicht ohne Änderung der tatsächlichen Voraussetzungen umgangen werden. Gegen den Willen der übrigen Erben darf keine Maßnahme erfolgen – auch nicht eine Notverwaltung: Das Recht zur alleinigen Vornahme von Notverwaltungsmaßnahmen ist lediglich eine Ausnahmeregelung, um bei dringenden Gefahrenlagen die Handlungsfähigkeit der Erbengemeinschaft zu ermöglichen.
Rz. 109
Einzelfälle:
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Abwehrmaßnahmen gegen Eingriffe in den Nachlass |
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Anfechtung eines Eigentümerbeschlusses |
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Anfechtung eines die Erbengemeinschaft belastenden Verwaltungsakts |
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Erhebung einer Klage, insb. einer gesellschaftsrechtlichen Anfechtungsklage |
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Reparaturarbeiten an einem Hausgrundstück, die mit Rücksicht auf die Erhaltung des Bestandes des Gebäudes, seiner Bewohnbarkeit oder Sicherheit so dringend waren, dass sie nicht aufgeschoben werden können, bis die anderen Miterben zustimmen |
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Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung gem. §§ 747, 766, 771 ZPO. |
Rz. 110
Keine Notverwaltungsmaßnahmen sind:
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Abschluss eines langjährigen Mietvertrags; |
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Anfechtung eines vom Erblasser geschlossenen Vertrags; |
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Antrag auf Bestimmung einer Inventarfrist gegen den Erben des Schuldners einer Nachlassforderung; |
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Klage auf Rechnungslegung; |
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Kündigung einer Nachlassforderung; |
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Umfangreiche Instandsetzungsarbeiten an einem Haus, die nicht aus Mitteln des Nachlasses zu finanzieren sind; |
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Widerruf einer schwebend unwirksamen Auflassungserklärung (einzelfallabhängig). |
Rz. 111
Diese Aufzählung ist mit Vorsicht zu betrachten: Wie bereits mehrfach betont, kommt es stets auf eine Abwägung im Einzelfall an. Eine generalisierende Betrachtung verbietet sich. Die Aufzählung von Einzelentscheidungen kann daher lediglich dazu dienen, mögliche Kriterien für den eigenen, konkreten Fall zu vermitteln. Eine schlichte "Übertragung" der Einzelfallentscheidung scheidet jedoch aus. So kann bspw. gerade die Anfechtung eines vom Erblasser geschlossenen Vertrages ein Fall der Notverwaltung sein, insb. dann, wenn die Anfechtungsfristen abzulaufen drohen.
Rz. 112
Der untätige Miterbe, der die Möglichkeit zur Notverwaltung hat, ...