Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 36
Begehrt ein Kläger von dem Beklagten Schadensersatz – z.B. aus einem Verkehrsunfall –, hat er hinsichtlich des den Anspruch begründenden Geschehensablaufes (der haftungsbegründenden Kausalität) den Vollbeweis nach § 286 ZPO zu führen. Zur Frage, inwieweit das schädigende Ereignis den behaupteten Schaden ausgelöst hat, kommt ihm jedoch die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zur Hilfe.
Anders als im Falle der Sachverhaltsermittlung nach § 286 ZPO ist der Richter, wenn die Voraussetzung des § 287 ZPO vorliegen, nicht verpflichtet, die angebotenen Beweismittel auszuschöpfen, vgl. aber Rdn 32.
OLG München RuS 2006, 474:
Zitat
Nach dem Maßstab des § 286 ZPO ist damit der erste Verletzungserfolg, die sog. haftungsbegründende Kausalität mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit […] zur Überzeugung des Senats nachgewiesen.
[…] Für den Nachweis der Dauer der Beeinträchtigung als Folge der Verletzung und die Weiterentwicklung der Schädigung reicht das Beweismaß des § 287 ZPO aus.
BGH VersR 1998, 1153 spricht von "Primärschaden".
LG Wuppertal VersR 2005, 1098:
Zitat
Auch die Beweiserleichterung des § 287 Abs. 1 ZPO kommt der Klägerin entgegen ihrer Ansicht nicht zugute. Denn diese Beweiserleichterung gilt nur für die Kausalität einer feststehenden Verletzung des Rechtsguts (Körper oder Gesundheit) und der Weiterentwicklung oder dem Umfang der Schädigung, also für die sog. haftungsausfüllende Kausalität.
Also z.B. nicht für die Frage, ob der Kläger überhaupt eine HWS-Verletzung erlitten hat.
Ist aber eine Körperverletzung als Unfallfolge bewiesen und tritt später der Tod des Verletzten ein, reicht die deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit, um von der Kausalität der Körperverletzung für den Tod überzeugt zu sein; es darf keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit verlangt werden, die medizinisch-wissenschaftlichen Kriterien standhält.
Rz. 37
Ein Fall zur Notarhaftung, BGH VersR 1997, 369:
Zitat
Zur Beantwortung der Frage, welchen Schaden eine Amtspflichtverletzung zur Folge hat, ist zu prüfen, welchen Verlauf die Dinge bei pflichtgemäßem Verhalten genommen hätten und wie die Vermögenslage des Betroffenen sein würde, wenn der Notar die Pflichtverletzung nicht begangen hätte […]. Hat der Notar eine gebotene Belehrung unterlassen, so ist zu fragen, wie die Dinge bei pflichtgemäßem positiven Handeln des Notars gelaufen wären […]. Die erforderliche Feststellung dieses Schadens gehört zur haftungsausfüllenden Kausalität, so dass dem Geschädigten die Beweiserleichterung des § 287 Abs. 1 ZPO zugutekommt […]
Rz. 38
Eine sehr weitgehende Aufweichung des Verbotes der vorweggenommen Beweiswürdigung leitet der BGH in der folgenden Entscheidung aus § 287 ZPO ab.
BGH, NJW 1996, 2501, 2502:
Zitat
[§ 287 ZPO] stellt den Richter insbesondere hinsichtlich des Umfangs der Beweiserhebungspflicht freier. Ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme oder von Amts wegen ein Sachverständigengutachten anzuordnen ist, bleibt danach dem pflichtgemäßen Ermessen des Richters überlassen (§ 287 Abs. 1 S. 2 ZPO). Im Unterschied zu den Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO kann er von einer weiteren Beweisaufnahme absehen, wenn ihm bereits hinreichende Grundlagen für ein Wahrscheinlichkeitsurteil zur Verfügung stehen […]. Das hat für den Geschädigten eine Beweiserleichterung zur Folge, bedeutet aber auf der anderen Seite auch, dass der Richter die Tatsachen nicht weiter aufzuklären braucht, wenn der Nachweis bisher nicht ansatzweise geführt und bereits hinreichend erkennbar ist, dass die noch zur Verfügung stehenden Beweise nicht ausreichen werden, die Behauptung des Kl. mit Wahrscheinlichkeit zu belegen. In diesem Rahmen ist dem Richter eine vorweggenommene Beweiswürdigung erlaubt […]
Diese Entscheidung wird viel zu wenig beachtet. Besagt sie doch, dass das Gericht, wenn die Voraussetzungen des § 287 ZPO im Übrigen erfüllt sind, von einer Beweiserhebung nicht nur absehen darf, wenn es sich schon so in der Lage sieht, etwa den Schadensumfang zu bestimmen, sondern dass es trotz entscheidungserheblichen Sachvortrages im Rahmen des § 287 ZPO einen Beweisantritt zurückweisen darf, wenn das Gelingen des Schadensnachweises unwahrscheinlich ist.
Zu einem Kartellschadenersatzfall, BGH NJW 2020, 1430, 1433 f.:
Zitat
Die nach § 287 ZPO vorzunehmende Würdigung hat alle Umstände einzubeziehen, die festgestellt sind oder für die diejenige Partei, die sich auf einen ihr günstigen Umstand mit indizieller Bedeutung für oder gegen einen Preiseffekt des Kartells beruft, Beweis angeboten hat. Der Tatrichter ist jedoch nicht gezwungen, jeden angebotenen Beweis zu erheben. Weil er bei der Behandlung von Anträgen zum Beweis von Indizien freier gestellt ist als bei sonstigen Beweisanträgen, darf und muss er bei einem Indizienbeweis vor der Beweiserhebung prüfen, ob die vorgetragenen Indizien – ihre Richtigkeit unterstellt – ihn von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugten. Führt diese Prüfung zu dem Ergebnis, dass auch der Nachweis de...