Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 84
Hat ein von dem Verletzten in Anspruch genommener gegen ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB verstoßen, das typischen Gefährdungsmöglichkeiten entgegenwirken soll, und ist im Zusammenhang damit gerade derjenige Schaden eingetreten, der mithilfe des Schutzgesetzes verhindert werden sollte, spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass der Verstoß für den Schadenseintritt ursächlich gewesen ist. Voraussetzung ist allerdings, dass sich der Schadensfall in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem vorschriftswidrigen Verhalten ereignet hat.
Steht die Verletzung eines Schutzgesetzes objektiv fest, muss also der das Schutzgesetz Übertretende in aller Regel Umstände darlegen und beweisen, die geeignet sind, die daraus folgende Annahme seines Verschuldens auszuräumen. (In der Rspr. wird nicht immer sauber zwischen Anscheinsbeweis und Beweislastumkehr unterschieden.)
Rz. 85
Ebenso gilt der Anscheinsbeweis der Kausalität bei Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften. Entscheidend ist auch hier, dass sich eine Rechtsgutverletzung verwirklicht, die zu vermeiden die Unfallverhütungsvorschrift gerade bezweckt.
Denn BGH NJW 1983, 1380:
Zitat
Vielmehr sind solche Unfallverhütungs- und Schutzvorschriften ihrerseits Ausdruck einer Erfahrung über die Gefährlichkeit bestimmter Handlungsweisen und den Nutzen der vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahme zur Abwehr dieser Gefahren.
Rz. 86
Ebenso bei Verstoß gegen Verkehrssicherungspflichten, die wie ein Schutzgesetz und Unfallverhütungsvorschriften durch genaue Verhaltensanweisungen typischen Gefährdungen entgegenwirken sollen, wenn sich in dem Schadensereignis gerade diejenige Gefahr verwirklicht, der durch die Auferlegung der konkreten Verhaltenspflichten begegnet werden sollte. "Denn auch solche Verkehrssicherungspflichten beruhen auf einer Erfahrungstypik, die die Feststellung rechtfertigt, dass sich die Gefahr, der sie steuern sollen, bei pflichtgemäßem Verhalten nicht verwirklicht hätte." (Eine Frau war auf einer Treppe gestürzt, deren Stufen mit glatten Steinfliesen belegt waren; andere Ursachen, z.B. Unaufmerksamkeit oder körperliche Mängel der Stürzenden, werden ausgeschieden, weil dafür keine Anhaltspunkte bestehen.)
So spricht nach dem BGH die Vermutung auch für die Außerachtlassung der inneren Sorgfalt, so dass ein Anscheinsbeweis des Verschuldens oder – je nach Stärke der Pflicht – sogar eine Umkehr der Beweislast in Betracht kommt, wenn die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes, also die objektive Verletzung einer Verkehrspflicht feststeht.
Ein Beispiel zur Verletzung von Verkehrssicherungspflichten nach OLG München BeckRS 2018, 23400:
Zitat
Hebt ein Handwerksbetrieb auf einer in einem Innenhof gelegenen Baustelle einen metertiefen Graben über die gesamte Breite des Innenhofs aus und ergreift er keine adäquaten Maßnahmen zur Sicherung der Gefahrenquelle, so haftet er aufgrund schuldhafter Verletzung seiner Verkehrssicherungspflicht gegenüber einem Dritten auf Schadensersatz, der bei Dunkelheit in den Graben stürzt. […] Typische Folge der mangelnden Absicherung eines Loches ist, dass jemand hineinstürzt. Versuche der Beklagten, den somit bestehenden Anscheinsbeweis zu erschüttern, sind nicht ersichtlich.