Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 199
Gemäß § 273 Abs. 2 Nr. 5 ZPO kann das Gericht zur Vorbereitung des Verhandlungstermins Urkunden und Akten anderer Behörden von den Parteien beiziehen. Nach § 432 ZPO kann eine Partei auch durch Antrag auf Beiziehung öffentlicher Urkunden Beweis antreten.
Sowohl die Aktenbeiziehung nach § 273 ZPO, als auch nach § 432 ZPO setzt aber voraus, dass sich eine Partei auf eine behördliche Akte bezogen hat, § 142 ZPO, wenn auch nicht ausdrücklich, aber wenigstens durch Ansprechen des behördlichen Vorgangs geschehen zu sein braucht. Es ist also nicht zulässig, dass das Gericht – wie es allerdings häufig geschieht – von Amts wegen Akten beizieht, auf die sich keine der Parteien – auch nicht mittelbar – berufen hat, und dann deren Inhalt zur Grundlage seiner Entscheidung macht. Ist z.B. Gegenstand des Rechtsstreits eine Wirtshausschlägerei, darf der Zivilrichter nicht von Amts wegen einen Strafregisterauszug anfordern, um sich anhand dessen einen Eindruck davon zu verschaffen, welcher der streitenden Parteien eher ein aggressives Verhalten zuzutrauen ist.
Rz. 200
Ein korrekter Antrag auf Aktenbeiziehung setzt eine konkrete Behauptung voraus, die durch die Akte belegt werden soll. Da die beweisführende Partei häufig gar nicht wissen kann, wo ein entsprechender Beleg ihrer Behauptung zu finden ist, kann von ihr nicht verlangt werden, genaue Blattzahlen anzugeben. Sicherer ist die konkrete Angabe von Blattzahlen aber natürlich, soweit möglich. Das Gericht ist insbesondere nicht befugt, von sich aus die Akte über den Antrag der Parteien hinausgehend daraufhin zu durchforsten, ob sie Entscheidungserhebliches enthält.
Siehe auch BGH VersR 1994, 1231, 1233:
Zitat
Grundsätzlich genügt ein Antrag auf Beiziehung von Akten nach § 432 ZPO nicht den gesetzlichen Erfordernissen, wenn die Partei nicht näher bezeichnet, welche Urkunden oder Aktenteile sie für erheblich hält. Gibt der Richter einem Antrag auf Beiziehung von Akten statt, obwohl dieser den genannten Anforderungen nicht genügt, wird damit nicht ohne Weiteres der gesamte Akteninhalt zum Gegenstand des Rechtsstreits; denn das wäre mit dem, im Zivilrecht geltenden Beibringungsgrundsatz nicht vereinbar. Infolgedessen ist der Tatrichter nicht verpflichtet, von sich aus die Akten daraufhin zu überprüfen, ob sie Tatsachen enthalten, die einer Partei günstig sind; andernfalls betriebe er unzulässige Beweisermittlung.
Aktenteile, auf die sich keine Partei erkennbar beruft, gehören folglich selbst dann nicht zum Prozessstoff, wenn es in der Terminsniederschrift oder im Urteil heißt, eine Akte sei zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.
Aber OLG Schleswig-Holstein OLGR Schleswig 2009, 187:
Zitat
Wenn das Gericht aus antragsgemäß beigezogenen Akten einen, bisher schriftsätzlich nicht vorgetragenen Sachverhalt durch gezielte Fragen an die Parteien in den Prozess einführt, liegt darin kein Verstoß gegen den Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz.
Diese Entscheidung des OLG Schleswig-Holstein geht zu weit. Durch die ZPO-Reform hat das Bezugnahmeerfordernis deutlich an Bedeutung gewonnen; der neu eingeführte § 273 Abs. 2 Nr. 5 ZPO mit der expliziten Verweisung auf § 142 ZPO stellt die Notwendigkeit einer Bezugnahme für alle Urkunden fest.
Der in der Rspr. anerkannte Grundsatz, dass durch die Stellung der Anträge und anschließendes Verhandeln der gesamte, bis zum Termin anfallende Akteninhalt zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist, betrifft die Hauptakten, die in der Regel das gesamte Parteivorbringen enthalten, nicht dagegen die Akten anderer Behörden, die nach §§ 273 Abs. 2 Nr. 5, 432 ZPO beigezogen werden.
Ausgeschlossen ist der Urkundenbeweis durch Antrag auf Aktenbeiziehung im Urkundenprozess, wenn diese Akten dem Prozessgericht nicht vorliegen.
Liegt ein Strafurteil vor und kann sich der Kläger dieses im Zivilprozess zunutze machen, sollte der Kläger das Strafurteil in den Prozess einführen, vgl. BGH NJW 2022, 705 sowie OLG Stuttgart, DStRE 2022, 1205:
Zitat
Grundsätzlich ist zwar die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung einer Partei im Zivilprozess nicht bindend, auch wenn die Akten eines Strafverfahrens und ein rechtskräftiges Strafurteil als Beweisurkunden gemäß §§ 415, 417 ZPO herangezogen werden können, auf die der Tatrichter seine Überzeugung stützen kann. Allerdings darf der Tatrichter bei einem engen rechtlichen und sachlichen Zusammenhang von Zivil- und Strafverfahren ein rechtskräftiges Strafurteil nicht unberücksichtigt lassen, sondern muss sich mit dessen Feststellungen auseinandersetzen, soweit sie für seine eigene Beweiswürdigung von Bedeutung sind. Der Tatrichter hat die in der Beweisurkunde dargelegten Feststellungen einer eigenen kritischen Überprüfung zu unterziehen. IdR wird den strafgerichtlichen Feststellungen zu folgen sein, sofern nicht von den Parteien gewichtige Gründe für deren Unrichtigkeit vorgebracht werden. Allerdings erhöht es nach allgemeinen Grundsätzen des Zivilprozesses die (sekundäre) Dar...