Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 164
Nach § 448 ZPO kommt die Vernehmung einer Partei zu ihrem eigenen Vorbringen von Amts wegen in Betracht, wenn schon gewisser Beweis erbracht ist, dem Gericht aber noch die letzte Überzeugung fehlt. Es muss die richterliche Gesamtwürdigung von Verhandlung und bisheriger Beweiserhebung eine gewisse, nicht notwendig hohe Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der streitigen Behauptung erbringen, d.h. es muss mehr für als gegen sie sprechen.
Die erforderliche Wahrscheinlichkeit kann auch ohne Beweisaufnahme aufgrund der Lebenserfahrung zu bejahen sein.
Der BGH hält auch nach der Entscheidung des EGMR teilweise daran fest, dass Voraussetzung für eine Vernehmung nach § 448 ZPO eine gewisse Anfangswahrscheinlichkeit ist und dass die Beweisnot einer Partei kein rechtfertigender Grund ist, von diesem Erfordernis Abstriche zu machen. Die Rechtsprechung des BGH ist aber nicht einheitlich (vgl. dazu oben Rdn 101 ff. und auch Rdn 169).
Und auch BGH NJW 1999, 363, 364:
Zitat
Die Parteivernehmung von Amts wegen darf nur angeordnet werden, wenn aufgrund einer vorausgegangenen Beweisaufnahme oder des sonstigen Verhandlungsinhalts bereits eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die zu beweisende Tatsache spricht.
Rz. 165
Gleichwohl ist die Bestimmung des § 448 ZPO eine wertvolle Beweiserleichterung für den Beweispflichtigen, die häufig nicht hinreichend genutzt wird.
Zwar gibt es für die gemäß § 448 ZPO von Amts wegen durchzuführende Vernehmung kein Antragsrecht der Parteien; sie können eine solche Vernehmung aber anregen. Und sofern diese Anregung nicht völlig deplatziert ist, hat das Gericht in seinen Entscheidungsgründen darzulegen, weshalb es der Anregung nicht gefolgt ist.
Rz. 166
Beispiel
Ein älterer Herr kommt mit dem Fahrrad um Mitternacht auf einem Radweg zu Fall und verletzt sich dabei schwer. Er will gemäß § 12 PflVG die Verkehrsopferhilfe in Anspruch nehmen und trägt dazu vor, von einem flüchtigen Mopedfahrer gerammt worden zu sein. Das bestreitet die Verkehrsopferhilfe. Aufgrund der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, dass der Kläger am Boden liegend um Hilfe gerufen und die herbeieilenden Anwohner gefragt hat, ob jemand den Mopedfahrer gesehen habe. Da es fernliegend sei, dass der Kläger in diesem Moment schon daran gedacht habe, Ansprüche gegen die Verkehrsopferhilfe durchzusetzen, hat das Landgericht aufgrund dieses Beweisergebnisses einen gewissen, aber allein noch nicht ausreichenden Beweis als erbracht gesehen. In der daraufhin nach § 448 ZPO durchgeführten Vernehmung des Klägers zu seinem eigenen Vorbringen hat dieser den Unfallverlauf anschaulich und überzeugend geschildert; die Beklagte wurde antragsgemäß verurteilt.
Rz. 167
Die Vernehmung einer Partei nach § 448 ZPO hat zu unterbleiben, wenn ihr Vortrag ebenso gut wahr wie unwahr sein kann.
Sie soll nicht erfolgen, wenn eine Partei unglaubwürdig ist, es soll niemand in eine Falschaussage getrieben werden.
Rz. 168
Das Gericht entscheidet nach freiem Ermessen. Welche Partei zu vernehmen ist, bestimmt das Gericht ohne Rücksicht auf die Beweislast allein danach, welche Partei zum Beweisthema eigene Wahrnehmungen bekunden kann. Dies kann ohne Weiteres auch der Prozessgegner des Beweisführers sein. Liegt aber eine Vernehmung nach § 448 ZPO nahe und enthält das Urteil keine Ausführungen darüber, weshalb das Gericht von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, kann darin ein Verfahrensfehler liegen, der in der Revisionsinstanz zur Aufhebung des Urteils führt.
BGH NJW-RR 1994, 636:
Zitat
Hält das Gericht den Inhalt einer Parteibehauptung für "durchaus möglich" und ist es der Meinung, dass "gewichtige Umstände" für die Richtigkeit dieser Behauptung sprechen, so liegen auch die Voraussetzungen für eine beantragte Parteivernehmung vor.
Rz. 169
Die Parteivernehmung nach § 448 ZPO soll vor allem demjenigen helfen, der sich in Beweisnot befindet. Deshalb zieht Schlosser aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Schlussfolgerung, § 448 ZPO müsse im Lichte des Grundsatzes der Waffengleichheit sowie des fairen Verfahrens dahin gehend neu interpretiert werden, dass entgegen des allgemeinen Grundsatzes, dass niemand Zeuge in eigener Sache sein kann, die Partei als solche zur Vernehmung zugelassen werden muss Dies bezieht er jedoch auf die Situation des Vieraugengesprächs, in der die maßgebliche Person auf der Gegenseite als Zeuge vernommen wurde.
Entschieden ablehnend gegen eine Ausdehnung der Anwendung des § 448 ZPO OLG Düsseldorf VersR 1999, 205, 206:
Zitat
Es ist Sache der Parteien, für den Streitfall Vorsorge zu treffen und Beweismittel zu sichern. Wenn eine Partei davon Gebrauch macht und die andere nicht, so beruht der Vorteil nicht auf formellen und zufälligen Gegebenheiten, sondern auf Umsicht. Eine Vernehmung des Beklagten würde auf eine Bevorzugung der weniger vorausschauenden Partei hinauslaufen.
Ähnlich Schmidt-Schondorf, Oberhammer, welche diesen Standpun...