Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 153
Das BerGer muss die erstinstanzliche Zeugenvernehmung wiederholen, wenn
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die Beweiserhebung auf einem Verfahrensfehler beruht, der nicht durch rügelose Einlassung geheilt ist oder geheilt werden kann, § 295 ZPO. (Ein solcher Verfahrensfehler wäre z.B. die Verwertung der Aussage eines Zeugen, an dessen Vernehmung nur ein Richter des nunmehr entscheidenden Kollegialgerichts teilgenommen hat, wenn dieser seinen persönlichen Eindruck von dem Zeugen nicht aktenkundig gemacht hat. Wird dieser Mangel nicht rechtzeitig gerügt, kann er allerdings nach § 295 ZPO geheilt sein; jedoch nicht, wenn er erst in dem Urteil des Kollegialgerichts zutage tritt.) Ebenso stellt das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrages einen Verfahrensfehler und somit zwingenden Grund dar, die Zeugenvernehmung zu wiederholen; |
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das BerGer Bedenken hat, der Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Richters zu folgen; |
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wenn das Berufungsgericht einer Zeugenaussage eine andere Tragweite, ein anderes Gewicht oder eine vom Wortsinn abweichende Auslegung geben will, oder wenn es die protokollierten Angaben des Zeugen für vage und präzisierungsbedürftig oder für widersprüchlich oder mehrdeutig hält und es für die Auffassung des Erstrichters nicht an jedem Anhaltspunkt in der protokollierten Aussage fehlt; |
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es darf die Glaubwürdigkeit eines Zeugen nicht anders als der erstinstanzliche Richter beurteilen, ohne sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Obwohl das jedem Berufungsrichter bekannt sein dürfte, wird gegen diese Regel ständig verstoßen. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass es häufig schwierig ist, Zeugen zu bewegen, noch ein weiteres Mal vor Gericht zu erscheinen; deshalb versucht das Berufungsgericht, ihre Ladung von vornherein zu vermeiden; |
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dem BerGer frühere Aussagen des Zeugen bekannt werden, die im Widerspruch zu der erstinstanzlichen Aussage stehen. Sofern die Glaubwürdigkeit noch nicht vom erstinstanzlichen Gericht festgestellt wurde, kann eine Partei in der Berufungsinstanz auch Gründe vortragen, die gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen sprechen; sind diese streitig, muss darüber Beweis erhoben werden; werden die gegen die Glaubwürdigkeit sprechenden Verdachtsmomente bewiesen, muss das BerGer den Zeugen erneut vernehmen; |
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die Würdigung der Vorinstanz in eindeutigem Widerspruch zum Vernehmungsprotokoll steht. Die Erfahrung zeigt, dass dieser Widerspruch sich zumeist schnell aufklärt und seine Ursache lediglich in der ungeschickten Protokollierung hat; die erneute Vernehmung wird dadurch aber nicht entbehrlich; |
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das erstinstanzliche Gericht die Aussage des von ihm vernommenen Zeugen gar nicht oder ungenügend gewürdigt hat. Das ist der in diesem Zusammenhang wohl häufigste Verfahrensfehler; das BerGer darf seine Entscheidung also nicht auf eine noch so klar protokollierte Aussage stützen, wenn das erstinstanzliche Gericht sie nicht gewürdigt hat, weil sie nach seiner – bei der Urteilsabsetzung vertretenen – Ansicht für die Entscheidungsfindung entbehrlich war. |
BGH NJW 1986, 2885:
Zitat
Als Grundlage für seine Beweiswürdigung steht dem BerGer dann nämlich nur die Niederschrift über die Zeugenvernehmung zur Verfügung, die über ihren reinen Wortlaut hinaus den Gang der Vernehmung nur unvollkommen wiederzugeben pflegt und in der Regel keine Aufschlüsse über das Aussageverhalten geben kann.
Rz. 154
Ein Beispiel für eine vom BGH gerügte Unterlassung erneuter Zeugenvernehmung, BGH NJW 1997, 466:
Zitat
[…] Insgesamt lassen sich den Ausführungen des LG keinerlei Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit der beiden Zeugen entnehmen. Demgegenüber hat das BerGer die Aussage des Zeugen K ausdrücklich als nicht glaubwürdig bezeichnet und ihr jeden Beweiswert abgesprochen und auch den Beweiswert der Aussage des Zeugen J für so stark gemindert erachtet, dass es sie nicht zur Grundlage seiner Entscheidung machen könne. Damit hat das BerGer der Sache nach die Glaubwürdigkeit der beiden Zeugen verneint, ohne sie selbst vernommen zu haben. Eine solche Beurteilung, die nicht auf dem persönlichen Eindruck des Gerichts von den beiden Zeugen beruht, verletzt jedoch jedenfalls dann das Gebot der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§§ 286, 398 ZPO), wenn sie – wie hier – nicht in gleichgerichteten Erwägungen des erstinstanzlichen Richters eine Stütze findet. Auch wenn einzelne vom BerGer angeführte Umstände möglicherweise die objektive Richtigkeit der Zeugenaussagen in Frage stellen, durfte es diesen Aussagen entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung nicht jeden Beweiswert absprechen, ohne sich einen persönlichen Eindruck von den Zeugen zu verschaffen.
Rz. 155
Eine Ausnahme von der Verpflichtung zu erneuter Vernehmung lässt der BGH allenfalls für den Fall gelten, dass "das Berufungsgericht seine von der Vorinstanz abweichende Würdigung der Aussage auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigk...