Dr. iur. Christian Saueressig
I. Grundsätze
Rz. 8
Genauso wie die Frage, wann es des Beweises bedarf, ist die Frage zu klären, wann ein Richter etwas als im Rechtssinne bewiesen ansehen darf, d.h. wann ein Beweis gelungen ist. Die Rechtswissenschaft bedient sich dazu des Begriffs des (Regel-) Beweismaß. Unter Beweismaß versteht man das Maß an Gewissheit, das ein Richter gewinnen muss, um eine Tatsachenbehauptung als bewiesen ansehen zu können. Das Beweismaß des § 286 ZPO ist die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Die Überzeugung des Richters setzt keine mathematische Gewissheit voraus, und es muss nicht jeglicher denkbare Zweifel ausgeschlossen sein.
Rz. 9
BGHZ 53, 245 (Anastasia-Fall):
Zitat
Der Richter darf und muss sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.
Es braucht keine mathematische Gewissheit zu bestehen, die jeden möglichen Zweifel und jede denkbare Möglichkeit des Gegenteils ausschließt.
In einer weiteren Entscheidung hat der BGH seinen Standpunkt noch einmal bekräftigt.
BGH NJW-RR 1994, 567:
Zitat
Die Überzeugung von der Wahrheit erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit, da eine solche nicht zu erreichen ist. Das Gericht darf also nicht darauf abstellen, ob jeder Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausgeschlossen ist.
Darauf muss ein Anwalt einen Richter hinweisen, der sich nicht zu einer Überzeugung durchringen mag, wenn er die Verantwortung nicht auf andere abwälzen kann, also niemals das Risiko eingeht, von einem Lebenserfahrungssatz auf einen Geschehensablauf zu schließen, nur weil es denkmöglich auch anders gewesen sein kann.
Zu ergänzen ist, dass der Richter das nicht nur darf, sondern auch muss. Er hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die ihm gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Generell gilt, dass der Richter das, was er darf, auch muss; sein Ermessensspielraum ist zumeist nur sehr gering.
Rz. 10
Diese Grundsätze zum Beweismaß werden von der allgemeinen Rechtspraxis nicht in Frage gestellt. Das heißt aber nicht, dass die Rspr. ihren Entscheidungen ein durchgängig gleiches Beweismaß zugrunde legt. Sie macht vielmehr die Anforderungen, die an die Gewissheit der Überzeugung zu stellen sind, von der Bedeutung der Sache abhängig.
Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 1981, Rn 401, verlangen das sogar ausdrücklich:
Zitat
Das erforderte Beweismaß muss unterschiedlich sein, je nachdem, welche Folgen ein – aus diesem Grunde denkbarer – Justizirrtum für den Betroffenen hat.
Im Übrigen hat sich das Beweismaß an den Erfahrungen des praktischen Lebens zu orientieren; an die beweisbelastete Partei dürfen keine unerfüllbaren Anforderungen gestellt werden.
II. Reduzierung und Anhebung des Beweismaßes
Rz. 11
Das Gesetz weicht in einer Vielzahl von Fällen vom (Regel-) Beweismaß ab, indem es einen geringeren Grad an richterlicher Überzeugung genügen lässt. In diesem Zusammenhang sind zum Beispiel die Vorschriften zu nennen, in denen das Gericht die Glaubhaftmachung der behaupteten Tatsachen ausreichen lässt (vgl. z.B. § 44 Abs. 2 ZPO, § 531 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Weiter setzen einzelne Vorschriften die Anforderungen an die richterliche Überzeugung selbst herab (vgl. z.B. § 1600d Abs. 2 BGB oder §§ 3, 287 ZPO). Genauso kennt das Gesetz Tatbestände, die eine Anhebung des Beweismaßes normieren, häufig wird dann die Formulierung "offenbar" verwendet (vgl. z.B. § 319 Abs. 1 BGB, § 562a S. 2 BGB).
Die Praxis setzt das zu fordernde Beweismaß auch im Wege richterrechtlicher Rechtsfortbildung herauf oder herab, und für typisierte Fälle macht die Rspr. des BGH den Instanzgerichten Vorgaben, welcher Beweiswert bestimmten Beweismitteln beizumessen ist. Das ist nicht unumstritten, rechtlich aber zulässig.
Eine Beweismaßreduzierung verbietet sich allerdings regelmäßig in den Fällen, in denen eine Partei selbst dagegen Vorkehrungen treffen kann, später nicht in Beweisschwierigkeiten zu geraten. Das gilt ganz allgemein für den Bereich des Vertragsrechts.
Nachfolgend sollen einige Beispiele dafür gegeben werden, in denen die Rechtsprechung Regeln/Prinzipien entwickelt hat, die das Beweismaß beeinflussen.
1. Arzthaftung
Rz. 12
Einen nicht unerheblichen Eingriff in die Freiheit der Überzeugungsbildung des Richters nimmt der BGH beispielsweise im Bereich der Arzthaftung vor, was schließlich zur Kodifikation des Arzthaftungsrecht im BGB geführt hat, vgl. Rdn 282 ff. Behauptet der Arzt, den Patienten umfassend über die Risiken eines Eingriffs aufgeklärt zu haben und hat er bewiesen, dass er regelmäßig gründlich aufkläre, so soll das Gericht grundsätzlich gehalten sein, ihm auch dann die behauptete sorgfältige A...