Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 137
Eine Partei kann den ihr obliegenden Beweis auch durch die Aussage eines Zeugen führen, die dieser zu Protokoll eines Strafverfahrens gemacht hat; der BGH sieht darin eine urkundenbeweisliche Verwertung und keinen Verstoß gegen das Unmittelbarkeitsprinzip. Der Beweisgegner kann die urkundenbeweisliche Verwertung nicht dadurch verhindern, dass er ihr widerspricht. Das Gericht darf also ohne eigene Vernehmung des Zeugen seine Entscheidung, auf dessen Aussage bei der polizeilichen Vernehmung stützen. Will der Beweisgegner das verhindern, kann er eine nochmalige Vernehmung des Zeugen allerdings dadurch erzwingen, dass er sich seinerseits gegenbeweislich auf Vernehmung eben dieses Zeugen beruft.
BGH BeckRS 2011, 29058:
Zitat
Niederschriften über Zeugenvernehmungen aus anderen Verfahren können im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden, wenn dies von der beweispflichtigen Partei beantragt wird. Das ist auch dann zulässig, wenn die Gegenpartei der Verwertung widerspricht; denn die Führung des Urkundenbeweises bedarf grundsätzlich nicht des Einverständnisses der Gegenpartei. Wenn eine Partei zum Zwecke des unmittelbaren Beweises jedoch die Vernehmung eines Zeugen beantragt, ist die urkundenbeweisliche Verwertung seiner früheren Aussage anstelle der beantragten Vernehmung unzulässig; dann ist dem Antrag, soweit er erheblich ist, durch Vernehmung des Zeugen zu entsprechen.
Rz. 138
Beispiel
In einer Verkehrssache beruft sich der Kläger zum Beweis für seine Behauptung, beim Linksabbiegen das Blinklicht gesetzt zu haben, auf die Aussage zweier Zeugen, die das in der polizeilichen Vernehmung so zu Protokoll gegeben haben; er beantragt die Beiziehung der polizeilichen Akte.
Will nun der Beklagte trotz dieser Urkunden dem Vorbringen des Klägers entgegentreten, hat er allenfalls dann eine Chance, wenn es ihm gelingt, eine (nochmalige) Vernehmung dieser Zeugen durch das Gericht zu erreichen; deshalb muss er ihre Vernehmung zum Beweis für seine Behauptung beantragen, der Kläger habe beim Abbiegen nicht das Blinklicht gesetzt.
Das Gericht kann die Beweiserhebung nicht mehr der Begründung ablehnen, es seien keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die Zeugen etwas anderes bekunden würden als in ihrer polizeilichen Vernehmung; eine vorwegnehmende Beweiswürdigung ist generell unzulässig.
Hat das Gericht den Zeugen in einer Parallelsache bereits selbst vernommen, führt ein gegenbeweislicher Beweisantrag einer Partei ebenfalls dazu, dass das Gericht den Zeugen hören muss. Das Gericht kann sich nicht darauf zurückziehen, dass ihm das Ergebnis der Zeugeneinvernahme im Parallelprozess gerichtsbekannt ist.
Im Berufungsverfahren ist die Lage mit Blick auf die in erster Instanz erfolgte Protokollierung einer Zeugenaussage wie folgt: Grundsätzlich steht es im Ermessen des Berufungsgerichts, einen Zeugen, der in der Vorinstanz bereits vernommen worden ist, erneut zu vernehmen. Wenn das Berufungsgericht ohne erneute Zeugenvernehmung die Aussage anders würdigen möchte als die Vorinstanz, muss es den Zeugen allerdings erneut hören. Ansonsten liegt eine Verletzung rechtlichen Gehörs vor. Eine erneute Vernehmung ist insbesondere dann geboten, wenn das Berufungsgericht die protokollierte Aussage anders verstehen will als die Vorinstanz, und zwar insbesondere dann, wenn die Aussage des Zeugen widersprüchlich oder mehrdeutig ist und es für die Auffassung des Erstrichters nicht an jedem Anhaltspunkt in der protokollierten Aussage fehlt.
Rz. 139
Etwas anderes gilt, wenn das Gericht im PKH-Verfahren die Erfolgsaussicht des Klagebegehrens oder der beabsichtigten Verteidigung zu prüfen, oder nach Erledigterklärung der Parteien gemäß § 91a ZPO über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden hat. Dann ist das Gericht nicht gehindert, davon auszugehen, dass die Zeugen bei einer erneuten Vernehmung wahrscheinlich nicht anders aussagen werden, als bei der Polizei und könnte mit dieser Begründung Prozesskostenhilfe versagen oder den Beklagten im Falle der Erledigterklärung mit den Kosten des Rechtsstreits belasten. Denn in diesen Fällen ist das Gericht berechtigt und verpflichtet, hypothetische Erwägungen anzustellen.
Rz. 140
OLG Hamm NJW-RR 2000, 1669:
Zitat
Fällt die Beweisprognose dahin aus, dass die Richtigkeit einer unter Beweis gestellten Tatsache für sehr unwahrscheinlich angesehen werden muss, darf Prozesskostenhilfe auch dann verweigert werden, wenn das Gericht aus beweisrechtlichen Gründen einem von der Partei gestellten Beweisantrag im Erkenntnisverfahren stattgeben müsste, BGH NJW 1994, 1160. Die Entscheidung über die Erfolgsprognose im Rahmen des PKH-Prüfungsverfahrens ist nämlich unabhängig von dem strengen Maßstab der Beweiserhebungspflicht zu treffen. Während das Gericht einem Beweisantritt auch dann folgen muss, wenn auch nur die nicht ausgeschlossene Möglichkeit besteht, dass eine Tatsache beweiserheblich ist, bindet das Gesetz die Bewilligung von Prozesskostenhilfe an die hinreichende Erfolgsaussicht, ...