Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 18
Die Freiheit des Gerichts in der Feststellung des seiner Entscheidung zugrunde zu legenden Sachverhaltes ist geringer als gemeinhin angenommen. Das Verständnis des Begriffs der freien Überzeugung erschließt sich erst vor seinem geschichtlichen Hintergrund, nämlich als Abgrenzung zu der früher geltenden Bindung des Gerichts an feste Beweisregeln. Die Freiheit der Überzeugung will also nicht mehr ausdrücken, als dass der Richter (von geringen, nicht sehr relevanten Ausnahmen abgesehen) nicht mehr an Beweisregeln gebunden ist.
Instruktiv BGH NJW-RR 2005, 1024 f. zur Würdigung eines Strafurteils durch das Zivilgericht:
Zitat
Eine Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Urteile ist mit der das Zivilprozessrecht beherrschenden freien Beweiswürdigung nicht vereinbar. Aus diesem Grund setzt § 14 II Nr. 1 EGZPO anderslautende landesrechtliche Prozessvorschriften außer Kraft. Der Zivilrichter muss sich seine Überzeugung grundsätzlich selbst bilden und ist regelmäßig auch nicht an einzelne Tatsachenfeststellungen eines Strafurteils gebunden. Allerdings darf er bei engem rechtlichen und sachlichen Zusammenhang von Zivil- und Strafverfahren rechtskräftige Strafurteile nicht völlig unberücksichtigt lassen, er ist vielmehr gehalten, sich mit den Feststellungen auseinanderzusetzen, die für seine eigene Beweiswürdigung relevant sind. Die freie Tatsachenprüfung findet ihre Grenze nur, soweit Existenz und Inhalt eines Strafurteils Tatbestandsvoraussetzungen eines Anspruchs bilden.
Gebunden ist das Gericht allerdings an die Denk- und Erfahrungsgesetze. Schlussfolgerungen müssen widerspruchsfrei und nachvollziehbar sein. Bei den einzelnen Beweismitteln sind auch die diesen eigenen Fehlerquellen zu berücksichtigen. Weiter muss das Gericht die vorhandenen Beweise vollständig würdigen und den unterbreiteten Sachverhalt umfassend ausschöpfen. Dabei gilt die Regel, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme unerwartet zutage tretenden Umstände jedenfalls hilfsweise zu eigen macht, soweit sie ihre Rechtsposition zu stützen geeignet sind. Werden diese Umstände nicht berücksichtigt, kann dies eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellen.
Frei ist das Gericht im Übrigen nicht darin wie es Beweis erhebt. Das Gericht ist zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet und muss deshalb grundsätzlich alle angetretenen Beweise zu einer entscheidungserheblichen Frage erheben, soweit nicht ein verfahrens- oder beweisrechtlicher Ablehnungsgrund gegeben ist, nachgehen.
Rz. 19
Die Freiheit des Gerichts erfährt insbesondere eine wesentliche Einschränkung durch die in § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO normierte Begründungspflicht. Das Gericht kann sich nicht damit begnügen festzustellen, es sei von der Wahrheit oder Unwahrheit überzeugt, sondern muss konkret benennen, worauf diese Überzeugung fußt. Es muss die für seine Überzeugung tragenden Gesichtspunkte (s auch § 313 Abs. 3) in der Begründung des Urteils nachvollziehbar darlegen und sich dabei insbesondere mit solchen Umständen und Beweismitteln auseinander setzen, die zu einer anderen Beurteilung führen können.
Damit ist unter anderem das Recht der Parteien gewährleistet zu erfahren, weshalb das Gericht einen bestimmten Sachverhalt als erwiesen ansieht oder nicht. Der Zweck der Begründungspflicht erschöpft sich auch noch nicht darin, den Richter zur Eigenkontrolle seiner Überzeugungsbildung zu zwingen, wenngleich auch das ein wesentlicher Gesichtspunkt ist. Die Begründungspflicht greift vielmehr – vorwirkend – in die Feststellung des Sachverhaltes selber ein. Nur das Begründbare, also das Dritten nachvollziehbar Darstellbare, kann festgestellter Sachverhalt und damit Entscheidungsgrundlage sein.
Sander, StV 2000, 45 (für den Strafprozess):
Zitat
Die Überzeugung des Gerichts ist notwendige, aber nicht zureichende Voraussetzung für die Verurteilung. Hinzutreten muss ein die Überzeugung stützendes Tatsachenmaterial, d.h. eine tragfähige Tatsachengrundlage.
Rz. 20
Die Begründungspflicht beschränkt sich in ihrer Wirkung nicht darauf, die Feststellungen darzustellen und wie man zu ihnen gelangt ist, sondern beeinflusst die Feststellungen selbst.
Das ist keineswegs selbstverständlich und die Einengung auf das Begründbare führt auch zu Verlusten. Denn es gibt auch eine Wahrnehmung, die sich nicht bewusst über die Sinnesorgane, sondern unbewusst vollzieht. Ob eine Zeugenaussage wahr ist oder nicht, kann auch erspürt werden. Dieses Gespür ist allerdings sehr irrtumsanfällig und wird sehr leicht von der emotionalen Verfassung des Entscheiders beeinflusst. Dem aber soll der Rechtsunterworfene nicht ausgeliefert werden. Deshalb sind ein Ahnen, Meinen, Fühlen und ein nicht näher bestimmbarer Eindruck keine den Anforderungen des § 286 ZPO genügende Begründung für eine Sachverhaltsfeststellung.
Rz. 21
Das bedeutet nicht, dass Eindruck und Gefühl des Richters bei der Sachverhaltsfeststellung keine Rolle spielen dürften – insoweit dem Rechtsgefühl...