I. Grundlagen des Anscheinsbeweises

 

Rz. 48

Der Anscheins- oder prima-facie-Beweis[98] ist gesetzlich nicht geregelt, sondern eine Schöpfung der Rechtsprechung und mittlerweile (gewohnheitsrechtlich) anerkannt.[99] Der Anscheinsbeweis ermöglicht es, vom Vorliegen eines schuldhaften Verhaltens oder eines ursächlichen Zusammenhangs auszugehen, obwohl die korrespondierenden Tatsachen nicht feststehen. Es wird also mithilfe der allgemeinen Lebenserfahrung eine Lücke in der Sachverhaltsfeststellung überbrückt.[100] Es handelt sich um eine Methode der indirekten Beweisführung.[101]

BGH GRUR 2017, 386, 388:[102]

Zitat

Der Beweis des ersten Anscheins greift bei typischen Geschehensabläufen ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Tatbestand nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist. Im Wege des Anscheinsbeweises kann gegebenenfalls von einem bestimmten eingetretenen Erfolg auf die Ursache geschlossen werden. Dieser Schluss setzt einen typischen Geschehensablauf voraus. Typizität bedeutet in diesem Zusammenhang allerdings nur, dass der Kausalverlauf so häufig vorkommen muss, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist.

Der Rückschluss auf das schuldhafte Verhalten oder den ursächlichen Zusammenhang ist in diesen Fällen mithin zulässig, da es bestimmte Erfahrungssätze gibt, die entweder das schuldhafte Verhalten oder den ursächlichen Zusammenhang nahelegen.

BGH BeckRS 2018, 11143:[103]

Zitat

Der Anscheinsbeweis greift jedoch nicht ein, wenn das Geschehen Umstände aufweist, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass das Schadensereignis anders abgelaufen ist als nach dem Muster der der Anscheinsregel zugrundeliegenden Erfolgstypik; das ist der Fall, wenn besondere Umstände hinzukommen, die wegen der Abweichungen des Sachverhalts von den typischen Sachverhalten einen anderen Geschehensablauf als ernsthafte, ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit nahelegen.

Gelingt es den beweisbelasteten Parteien, die Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises darzulegen und zu beweisen, ist der ursächliche Zusammenhang oder das schuldhafte Verhalten bewiesen.[104]

Aber BGH GRUR 2017, 386, 388:[105]

Zitat

Der Anscheinsbeweis ist entkräftet (erschüttert), wenn der Gegner die ernsthafte Möglichkeit eines anderweitigen Geschehensablaufs beweist.

Der Anscheinsbeweis hat mithin zwei Voraussetzungen: (i) das Vorliegen eines typischen Geschehensablaufs und (ii) Erfahrungssätze, die von einem typisierten Geschehensablauf auf das Verschulden oder einen Ursachenzusammenhang schließen lassen. Die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anscheinsbeweises trägt die Partei, die aus ihm Rechtsfolgen für sich herleiten möchte.[106]

[98] Doukoff, SVR 2015, 245.
[99] Reimer, NZV 2018, 258 ff.; BLP/Laumen, Bd. 1, Kap. 17 Rn 5.
[100] BLP/Laumen, Bd. 1, Kap. 17 Rn 4.
[101] Doukoff, SVR 2015, 245.
[102] Vgl. auch BGH r+s 2023, 971, 974.
[103] BGH NJW 1991, 230, 231; BGH NJW 2012, 2263, 2264.
[104] Reimer, NZV 2018, 258 ff.
[106] BLP/Laumen, Bd. 1, Kap. 17 Rn 31.

II. Typische Geschehensabläufe/Erfahrungssätze

 

Rz. 49

Voraussetzung für einen Anscheinsbeweis ist das Vorliegen eines typischen Geschehensablaufs bzw. eines Erfahrungssatzes, der zur Begründung der vollen richterlichen Überzeugung geeignet ist.[107] Die den Anscheinsbeweis konstituierende Lebenserfahrung beruht mithin auf Erfahrungssätzen, aus vielen sinnesmäßig beobachteten gleichförmigen Einzeltatsachen abgeleiteten Allgemeinregeln, wonach nach oftmaliger Wiederholung gewisser Vorgänge ihre Wiederkehr auch in der Zukunft erwartet werden kann.[108]

BGH NJW-RR 1988, 789, 790:[109]

Zitat

Der Anscheinsbeweis ist bei typischen Geschehensabläufen anwendbar zum Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs und des Verschuldens. Er erlaubt es, in solchen Fällen aufgrund einer bestimmten Wirkung eine bestimmte Ursache und umgekehrt, sowie das Verschulden beteiligter Personen als bewiesen anzusehen. Er setzt jedoch voraus, dass ein Tatbestand feststeht, bei dem der behauptete ursächliche Zusammenhang oder das behauptete Verschulden typischerweise gegeben ist, beruht also auf der Auswertung von Wahrscheinlichkeiten, die aufgrund der Lebenserfahrung anzunehmen sind […]. Es muss sich also um ein Geschehen gehandelt haben, bei dem die Regeln des Lebens und der Erfahrung des Üblichen und Gewöhnlichen dem Richter die Überzeugung (§ 286 ZPO) vermitteln, dass auch in dem von ihm entschiedenen Fall der Ursachenverlauf so gewesen ist, wie in den vergleichbaren Fällen […]

Laumen wählt zur Illustration eines typischen Geschehensablaufs / Erfahrungssatzes folgenden Fall: "Eine Kundin rutscht in einem Lebensmittelmarkt aus und verletzt sich dabei schwer. In dem unmittelbaren Bereich, in dem sie hingefallen ist, lag ein Salatblatt herum. Eine Zeugin hat nach dem Unfall beobachtet, dass dieses Salatblatt zertreten war." Hier spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Kundin auf dem Salatblatt ausgerutscht ist....

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