Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 94
Das Gericht hat gemäß § 286 ZPO "unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung" zu entscheiden. Der gesamte Inhalt der Verhandlung umfasst nicht nur den Sachvortrag der Parteien, d.h. etwaige Schriftsätze nebst Anlagen und den mündlichen Vortrag, sondern auch das prozessuale Verhalten der Partei sowie ihre Glaubwürdigkeit.
LAG BaWü NZA-RR 2000, 514, 515:
Zitat
Der Begriff "Beweiswürdigung" ist demgegenüber missverständlich, da er nahelegt, es gehe nur um die Würdigung der Beweisaufnahme. Zu würdigen sind vielmehr auch die prozessualen und vorprozessualen Handlungen, Erklärungen und Unterlassungen der Parteien und ihrer Vertreter.
Damit versteht sich eigentlich von selbst, dass auch das Ergebnis der Anhörung der Parteien Grundlage der Überzeugungsbildung des Gerichts sein kann.
Der BGH in NJW 1998, 306, 307 formuliert sogar, dass das Gericht einer Anhörung den Vorzug vor der Bekundung eines Zeugen geben darf. Zum Näheren vgl. Rdn 103 ff.
Rz. 95
Denn dass die Parteianhörung im Gegensatz zur Parteivernehmung nach ganz überwiegender Meinung kein Beweisverfahren ist, bedeutet noch nicht, dass sie für die Feststellung des Sachverhaltes nicht herangezogen werden darf – eben weil § 286 ZPO die Sachverhaltsermittlung gar nicht allein auf eine Beweiserhebung stützt; auch nicht, soweit der Sachverhalt streitig ist.
Dass die Funktion der Anhörung der Parteien nach § 141 ZPO nicht darin liegt, Beweis zu erbringen, sondern lediglich darin, einen undurchsichtigen Parteivortrag zu klären, schließt die Verwertung des Ergebnisses der Anhörung zur Überzeugungsbildung nicht aus.
Eine ganz andere – bislang wohl ungeklärte – Frage ist jedoch,
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ob das Gericht allein auf die Anhörung der Parteien seine Überzeugung stützen, |
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ob es die Anhörung der Parteien gezielt zur Ermittlung streitigen Sachverhaltes einsetzen darf. |
I. Praxis der Instanzgerichte
Rz. 96
Die Praxis vieler Instanzgerichte geht aber noch viel weiter: Sie bedienen sich der Anhörung der Parteien zur direkten Ermittlung des Sachverhaltes. Zwar stellen sie nicht in Abrede, dass die Anhörung kein Beweismittel ist; leiten aber aus § 286 ZPO die Befugnis ab, die Anhörung gezielt zur Sachverhaltsaufklärung einzusetzen.
Die Rspr. verfährt insbesondere dann häufig so, wenn eine Partei in Beweisschwierigkeiten gerät, weil die Gegenseite einen Zeugenbeweis antreten kann, sie aber nicht. Etwa in Fällen, in denen über Schadensersatzansprüche aus dem Zusammenstoß zweier Kraftfahrzeuge zu entscheiden ist und der Fahrer des einen Fahrzeuges seinen Ehepartner als Zeugen benennen kann, der andere Fahrer aber allein in seinem Fahrzeug gesessen hat. Einige Gerichte helfen der Beweisnot des allein Fahrenden dadurch ab, dass sie der Zeugenaussage des Ehepartners des anderen jeglichen Beweiswert absprechen, sofern sie nicht durch objektive Beweismittel bestätigt werden.
Rz. 97
Dem ist BGH NJW 1988, 566 jedoch zu Recht entgegengetreten:
Zitat
Es verstößt gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung, den Aussagen von Insassen unfallbeteiligter Kraftfahrzeuge (sog. "Beifahrerrechtsprechung") oder von Verwandten oder Freunden von Unfallbeteiligten nur für den Fall Beweiswert zuzuerkennen, dass sonstige objektive Gesichtspunkte für die Richtigkeit der Aussage sprechen.
Schneider meint dazu, "dass der Realitätsgehalt der Aussagen unfallbeteiligter Zeugen nur durch besonders kritische Würdigung ermittelt werden kann, wobei in der Regel zu verlangen ist, dass die Aussage durch feststehende objektive Umstände gestützt wird." Schneider schränkt diese Aussage aber sogleich wieder ein, indem er betont, dass daraus aber wiederum auch keine Beweisregel gemacht werden dürfe.
Rz. 98
Andere Gerichte wollen das Ungleichgewicht in der Beweisführungslast dadurch ausgleichen, dass sie das persönliche Erscheinen der Parteien nach § 141 ZPO anordnen und neben der Vernehmung des Zeugen die Parteien anhören. Das Ergebnis ist dann zumeist, dass das Gericht Aussage und Anhörungen dahingehend würdigt, weder die Unfalldarstellung des Klägers noch die des Beklagten sei bewiesen und deshalb sei eine Beweislastentscheidung zu treffen.
Gegen eine Einbeziehung des Ergebnisses der Anhörung der Parteien ist zwar im Prinzip nichts einzuwenden; sie ist durch § 286 ZPO gedeckt; vgl. Rdn 108, 169. Wohl aber dagegen, durch die Anhörung die Bestimmungen der Parteivernehmung nach § 445 ZPO gezielt zu unterlaufen.
Rz. 99
Der Gesetzgeber hat die Parteivernehmung als subsidiäres Beweismittel ausgestaltet. Sie ist nur zulässig, wenn andere Beweismittel nicht in Betracht kommen. Die Vernehmung einer Partei zu ihrem eigenen Vorbringen ist nur mit ...