Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 213
Die Vorschrift des § 444 ZPO enthält eine gesetzliche Regelung der Beweisvereitelung für den Fall der Urkundenbeseitigung. Wenn eine Partei eine Urkunde in der Absicht, ihre Benutzung dem Gegner zu entziehen, beseitigt oder wenn sie die Urkunde zur Benutzung untauglich macht, können die Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den Inhalt der Urkunde als bewiesen angesehen werden. Diese Rechtsfolge entspricht den Rechtsfolgen des § 371 Abs. 3 ZPO (Nichtvorlage oder Veränderung eines Augenscheinsobjekts, des § 427 S. 2 ZPO (Nichtvorlegen durch den Gegner des Beweisführers) und des § 441 Abs. 3 S. 3 ZPO (Nichtvorlegen von Vergleichsschriften).
Der Rechtsgedanke, der § 444 ZPO zugrunde liegt, wird entsprechend angewandt auf andere, auch fahrlässige Beweisvereitelungen. Voraussetzung ist aber, dass die spätere Beweisfunktion bei Vernichtung des Beweisstücks bereits erkennbar war. Es muss einer Partei ein Vorwurf daraus gemacht werden können, dass der Prozessgegner einen Beweis nicht führen kann.
BGH NJW 1998, 79, 81:
Zitat
Die Beweisvereitelung kann vorprozessual oder während des Prozesses durch gezielte oder fahrlässige Handlungen geschehen, mit denen bereits vorhandene Beweismittel vernichtet oder vorenthalten werden. Sie kann auch in einem fahrlässigen Unterlassen einer Aufklärung bei bereits eingetretenem Schadensereignis liegen, wenn damit die Schaffung von Beweismitteln verhindert wird, obwohl die spätere Notwendigkeit einer Beweisführung dem Aufklärungspflichtigen bereits erkennbar sein musste.
Die Beweisvereitelung führt nicht generell zu einer Beweislastumkehr, zumindest aber dazu, dass das Gericht sie bis zum Beweis des Gegenteils bei seiner Beweiswürdigung zu berücksichtigen hat.
BGH NJW 2006, 434, 435:
Zitat
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH liegt in Anwendung des Rechtsgedankens aus §§ 427, 441 III 3, 444, 446, 453 II 454 I ZPO eine Beweisvereitelung vor, wenn eine Partei ihrem beweispflichtigen Gegner die Beweisführung schuldhaft erschwert oder unmöglich macht. Dies kann vorprozessual oder während des Prozesses durch gezielte oder fahrlässige Handlungen geschehen, mit denen bereits vorhandene Beweismittel vernichtet oder vorenthalten werden. Das Verschulden muss sich dabei sowohl auf die Zerstörung oder Entziehung des Beweisobjekts als auch auf die Beseitigung seiner Beweisfunktion beziehen, also darauf, die Beweislage des Gegners in einem gegenwärtigen oder künftigen Prozess nachteilig zu beeinflussen. Als Folge der Beweisvereitelung kommen in solchen Fällen Beweiserleichterungen in Betracht, die unter Umständen bis zur Umkehr der Beweislast gehen können.
BGH NJOZ 2016, 1563:
Zitat
Kann einer Partei der Vorwurf gemacht werden, sie habe den vom Prozessgegner zu führenden Beweis vereitelt, führt dies nicht dazu, dass eine Beweiserhebung gänzlich unterbleiben kann und der Vortrag der beweispflichtigen Partei als bewiesen anzusehen ist. Vielmehr sind zunächst die von der beweispflichtigen Partei angebotenen Beweise zu erheben. Stehen solche Beweise nicht zur Verfügung oder bleibt die beweisbelastete Partei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme beweisfällig, ist eine Beweislastumkehr in Betracht zu ziehen und den Beweisangeboten des Prozessgegners nachzugehen.
Rz. 214
Beispiele
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Nichtaufbewahren eines Beweismittels, |
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Weigerung des Schädigers, dem Geschädigten die Namen von in Betracht kommenden Zeugen zu benennen, |
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Versagung der Aussagegenehmigung, |
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Weigerung, sich ärztlich untersuchen zu lassen, obwohl dieses zumutbar ist, |
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Entfernen von der Unfallstelle, |
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Austausch und Vernichtung eines mangelhaften Autoteils, |
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Verletzung von Dokumentationspflichten, insbesondere Verletzung der Befundsicherungspflicht bei Ärzten, |
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Verletzung der Pflicht des Geschäftsleiters zur Führung und Aufbewahrung von Büchern und Belegen, |
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Verweigerung des Zutritts zu Räumen, die der Sachverständige betreten muss, um ein Gutachten fertigen zu können. |
Vgl. aber auch BGH NJW-RR 1996, 1534, zitiert unter Rdn 212.
Ein weiteres Beispiel einer Beweisvereitelung (Verletzung der Dokumentationspflicht) aus der Rechtsprechung des BGH (MDR 2009, 80) nach Laumen:
Zitat
Der Kläger klagt als Insolvenzverwalter restlichen Werklohn der Gemeinschuldnerin ein. Die Beklagte errichtete als Generalunternehmerin ein Parkhaus. Sie beauftragte die Gemeinschuldnerin mit der Ausführung von Betonarbeiten. Unmittelbar nach Einbringung des Betons zeigten sich Mängel, die die Beklagte ggü. der Gemeinschuldnerin rügte. Nach erfolgloser Aufforderung zur Mängelbeseitigung ließ die Beklagte die gerügten Mängel selbst beseitigen, wobei sich deren Umfang in den tieferen Schichten der Betonarbeiten nach ihrer Behauptung erst im Zuge der Mängelbeseitigungsmaßnahmen sichtbar wurde. Entgegen einer entsprechenden Bitte gab die Beklagte der Gemeinschuldnerin keine Gelegenheit, sich an der Schadensfeststellung zu beteiligen. Eine Dokumentation der angeblich festgeste...