Rz. 8

Genauso wie die Frage, wann es des Beweises bedarf, ist die Frage zu klären, wann ein Richter etwas als im Rechtssinne bewiesen ansehen darf, d.h. wann ein Beweis gelungen ist. Die Rechtswissenschaft bedient sich dazu des Begriffs des (Regel-) Beweismaß.[4] Unter Beweismaß versteht man das Maß an Gewissheit, das ein Richter gewinnen muss, um eine Tatsachenbehauptung als bewiesen ansehen zu können.[5] Das Beweismaß des § 286 ZPO ist die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Die Überzeugung des Richters setzt keine mathematische Gewissheit voraus, und es muss nicht jeglicher denkbare Zweifel ausgeschlossen sein.

 

Rz. 9

BGHZ 53, 245 (Anastasia-Fall):

Zitat

Der Richter darf und muss sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.

Es braucht keine mathematische Gewissheit zu bestehen, die jeden möglichen Zweifel und jede denkbare Möglichkeit des Gegenteils ausschließt.

In einer weiteren Entscheidung hat der BGH seinen Standpunkt noch einmal bekräftigt.

BGH NJW-RR 1994, 567:[6]

Zitat

Die Überzeugung von der Wahrheit erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit, da eine solche nicht zu erreichen ist. Das Gericht darf also nicht darauf abstellen, ob jeder Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausgeschlossen ist.

Darauf muss ein Anwalt einen Richter hinweisen, der sich nicht zu einer Überzeugung durchringen mag, wenn er die Verantwortung nicht auf andere abwälzen kann, also niemals das Risiko eingeht, von einem Lebenserfahrungssatz auf einen Geschehensablauf zu schließen, nur weil es denkmöglich auch anders gewesen sein kann.

Zu ergänzen ist, dass der Richter das nicht nur darf, sondern auch muss. Er hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die ihm gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Generell gilt, dass der Richter das, was er darf, auch muss; sein Ermessensspielraum ist zumeist nur sehr gering.

 

Rz. 10

Diese Grundsätze zum Beweismaß werden von der allgemeinen Rechtspraxis nicht in Frage gestellt. Das heißt aber nicht, dass die Rspr. ihren Entscheidungen ein durchgängig gleiches Beweismaß zugrunde legt. Sie macht vielmehr die Anforderungen, die an die Gewissheit der Überzeugung zu stellen sind, von der Bedeutung der Sache abhängig.

Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 1981, Rn 401, verlangen das sogar ausdrücklich:

Zitat

Das erforderte Beweismaß muss unterschiedlich sein, je nachdem, welche Folgen ein – aus diesem Grunde denkbarer – Justizirrtum für den Betroffenen hat.

Im Übrigen hat sich das Beweismaß an den Erfahrungen des praktischen Lebens zu orientieren; an die beweisbelastete Partei dürfen keine unerfüllbaren Anforderungen gestellt werden.[7]

[4] BLP/Laumen, Bd. 1, Kap. 5 Rn 1 und 19.
[5] MüKo/Prütting, § 286 ZPO Rn 28.
[6] So auch BGH NJW 2013, 2018, 2020.
[7] BGH NJW 1982, 2874.

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