Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 96
Die Praxis vieler Instanzgerichte geht aber noch viel weiter: Sie bedienen sich der Anhörung der Parteien zur direkten Ermittlung des Sachverhaltes. Zwar stellen sie nicht in Abrede, dass die Anhörung kein Beweismittel ist; leiten aber aus § 286 ZPO die Befugnis ab, die Anhörung gezielt zur Sachverhaltsaufklärung einzusetzen.
Die Rspr. verfährt insbesondere dann häufig so, wenn eine Partei in Beweisschwierigkeiten gerät, weil die Gegenseite einen Zeugenbeweis antreten kann, sie aber nicht. Etwa in Fällen, in denen über Schadensersatzansprüche aus dem Zusammenstoß zweier Kraftfahrzeuge zu entscheiden ist und der Fahrer des einen Fahrzeuges seinen Ehepartner als Zeugen benennen kann, der andere Fahrer aber allein in seinem Fahrzeug gesessen hat. Einige Gerichte helfen der Beweisnot des allein Fahrenden dadurch ab, dass sie der Zeugenaussage des Ehepartners des anderen jeglichen Beweiswert absprechen, sofern sie nicht durch objektive Beweismittel bestätigt werden.
Rz. 97
Dem ist BGH NJW 1988, 566 jedoch zu Recht entgegengetreten:
Zitat
Es verstößt gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung, den Aussagen von Insassen unfallbeteiligter Kraftfahrzeuge (sog. "Beifahrerrechtsprechung") oder von Verwandten oder Freunden von Unfallbeteiligten nur für den Fall Beweiswert zuzuerkennen, dass sonstige objektive Gesichtspunkte für die Richtigkeit der Aussage sprechen.
Schneider meint dazu, "dass der Realitätsgehalt der Aussagen unfallbeteiligter Zeugen nur durch besonders kritische Würdigung ermittelt werden kann, wobei in der Regel zu verlangen ist, dass die Aussage durch feststehende objektive Umstände gestützt wird." Schneider schränkt diese Aussage aber sogleich wieder ein, indem er betont, dass daraus aber wiederum auch keine Beweisregel gemacht werden dürfe.
Rz. 98
Andere Gerichte wollen das Ungleichgewicht in der Beweisführungslast dadurch ausgleichen, dass sie das persönliche Erscheinen der Parteien nach § 141 ZPO anordnen und neben der Vernehmung des Zeugen die Parteien anhören. Das Ergebnis ist dann zumeist, dass das Gericht Aussage und Anhörungen dahingehend würdigt, weder die Unfalldarstellung des Klägers noch die des Beklagten sei bewiesen und deshalb sei eine Beweislastentscheidung zu treffen.
Gegen eine Einbeziehung des Ergebnisses der Anhörung der Parteien ist zwar im Prinzip nichts einzuwenden; sie ist durch § 286 ZPO gedeckt; vgl. Rdn 108, 169. Wohl aber dagegen, durch die Anhörung die Bestimmungen der Parteivernehmung nach § 445 ZPO gezielt zu unterlaufen.
Rz. 99
Der Gesetzgeber hat die Parteivernehmung als subsidiäres Beweismittel ausgestaltet. Sie ist nur zulässig, wenn andere Beweismittel nicht in Betracht kommen. Die Vernehmung einer Partei zu ihrem eigenen Vorbringen ist nur mit Zustimmung des Gegners, § 447 ZPO, oder nach § 448 ZPO von Amts wegen zulässig, wenn schon ein Anfangsbeweis erbracht ist, vgl. Rdn 164.
Diese gesetzliche Regelung darf nicht kurzerhand dadurch unterlaufen werden, dass gezielt zur Sachverhaltsermittlung eine Parteianhörung angeordnet wird, die in Form einer Parteivernehmung erfolgt, nur nicht so genannt wird.
Rz. 100
LG Berlin MDR 2000, 882 sieht demgegenüber gerade in einem Unterlassen der Anhörung zur Sachverhaltsermittlung einen Verfahrensfehler:
Zitat
Das Gericht handelt verfahrensfehlerhaft, wenn es im Prozess um die Kollision zweier Kraftfahrzeuge die Mitfahrenden aus einem der Fahrzeuge als Zeugen vernimmt, den Unfallgegner jedoch, der keinen Zeugen benennen kann, zu seinem abweichenden Vorbringen nicht anhört.
Das AG habe den seiner Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt unter Verstoß gegen das aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitende Gebot der fairen Verfahrensgestaltung und den – über den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG im Übrigen auch mit Grundrechtsschutz ausgestatteten – herkömmlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit festgestellt.
Allerdings will das LG es nicht zulassen, dass das Gericht seine Entscheidung allein auf das Ergebnis einer Anhörung stützt. Diese soll lediglich den entgegenstehenden Zeugenaussagen ihre Beweiskraft nehmen. Kommt das Gericht bei seiner Anhörung zu dem Ergebnis, der Parteivortrag sei wahr, soll es diese Partei nach § 448 ZPO vernehmen. Das LG respektiert letztlich also doch, dass die Anhörung der Partei kein Beweismittel ist.
Sehr weitgehend auch OLG München NJW 2011, 3829:
Zitat
In Verkehrsunfallsachen sind die unfallbeteiligten Parteien grundsätzlich von Amts wegen anzuhören; das Unterlassen einer Parteianhörung oder Parteieinvernahme von Amts wegen stellt einen Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dar.
Rz. 101
Die Rspr. bedient sich der Anhörung mit unterschiedlicher Zielrichtung:
Zum einen soll dem Beweispflichtigen über Beweisschwierigkeiten hinweggeholfen werden, also eine Anhörung zu seinem Vorteil. Dafür plädieren z.B. Schlosser und Schöpflin, um auf diesem Wege der Anforderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte