Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 11
Das Gesetz weicht in einer Vielzahl von Fällen vom (Regel-) Beweismaß ab, indem es einen geringeren Grad an richterlicher Überzeugung genügen lässt. In diesem Zusammenhang sind zum Beispiel die Vorschriften zu nennen, in denen das Gericht die Glaubhaftmachung der behaupteten Tatsachen ausreichen lässt (vgl. z.B. § 44 Abs. 2 ZPO, § 531 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Weiter setzen einzelne Vorschriften die Anforderungen an die richterliche Überzeugung selbst herab (vgl. z.B. § 1600d Abs. 2 BGB oder §§ 3, 287 ZPO). Genauso kennt das Gesetz Tatbestände, die eine Anhebung des Beweismaßes normieren, häufig wird dann die Formulierung "offenbar" verwendet (vgl. z.B. § 319 Abs. 1 BGB, § 562a S. 2 BGB).
Die Praxis setzt das zu fordernde Beweismaß auch im Wege richterrechtlicher Rechtsfortbildung herauf oder herab, und für typisierte Fälle macht die Rspr. des BGH den Instanzgerichten Vorgaben, welcher Beweiswert bestimmten Beweismitteln beizumessen ist. Das ist nicht unumstritten, rechtlich aber zulässig.
Eine Beweismaßreduzierung verbietet sich allerdings regelmäßig in den Fällen, in denen eine Partei selbst dagegen Vorkehrungen treffen kann, später nicht in Beweisschwierigkeiten zu geraten. Das gilt ganz allgemein für den Bereich des Vertragsrechts.
Nachfolgend sollen einige Beispiele dafür gegeben werden, in denen die Rechtsprechung Regeln/Prinzipien entwickelt hat, die das Beweismaß beeinflussen.
1. Arzthaftung
Rz. 12
Einen nicht unerheblichen Eingriff in die Freiheit der Überzeugungsbildung des Richters nimmt der BGH beispielsweise im Bereich der Arzthaftung vor, was schließlich zur Kodifikation des Arzthaftungsrecht im BGB geführt hat, vgl. Rdn 282 ff. Behauptet der Arzt, den Patienten umfassend über die Risiken eines Eingriffs aufgeklärt zu haben und hat er bewiesen, dass er regelmäßig gründlich aufkläre, so soll das Gericht grundsätzlich gehalten sein, ihm auch dann die behauptete sorgfältige Aufklärung zu glauben, wenn es darüber keine Aufzeichnungen gibt und er sie deshalb nicht belegen kann.
BGH NJW 2014, 1527:
Zitat
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats hat der aufklärungspflichtige Arzt nachzuweisen, dass er die von ihm geschuldete Aufklärung erbracht hat. An den dem Arzt obliegenden Beweis dürfen allerdings keine unbilligen und übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Danach hat der Tatrichter die besondere Situation, in der sich der Arzt während der Behandlung des Patienten befindet, ebenso zu berücksichtigen wie die Gefahr, die sich aus dem Missbrauch seiner Beweislast durch den Patienten zu haftungsrechtlichen Zwecken ergeben kann. Ist einiger Beweis für ein gewissenhaftes Aufklärungsgespräch erbracht, sollte dem Arzt im Zweifel geglaubt werden, dass die Aufklärung auch im Einzelfall in der gebotenen Weise geschehen ist; dies auch mit Rücksicht darauf, dass aus vielerlei verständlichen Gründen Patienten sich im Nachhinein an den genauen Inhalt solcher Gespräche, die für sie etwa vor allem von therapeutischer Bedeutung waren, nicht mehr erinnern. In jedem Fall bedarf es einer verständnisvollen und sorgfältigen Abwägung der tatsächlichen Umstände, für die der Tatrichter einen erheblichen Freiraum hat.
Des Weiteren soll es einer sorgfältigen ärztlichen Dokumentation in der Regel Glauben schenken. Einer elektronischen Dokumentation, die nachträgliche Änderungen entgegen § 630f Abs. 1 S. 2 und 3 BGB nicht erkennbar macht, kommt demgegenüber keine positive Indizwirkung dahingehend zu, dass die dokumentierte Maßnahme von dem Behandelnden tatsächlich getroffen worden ist.
2. Einzahlungsquittung
Rz. 13
Sehr instruktiv ist auch der vom BGH entschiedene Fall, in dem ein Kreditinstitut einem Bankkunden eine Einzahlung in Höhe von 49.725 DM quittierte, dann aber unter Berufung auf das Zeugnis ihrer Kassiererin geltend machte, tatsächlich sei nur ein Betrag von 4.725 DM eingezahlt worden:
Zitat
Die Beweiskraft einer Quittung hängt von den Umständen des Einzelfalles ab […]. Im vorliegenden Falle ist für die Beweiskraft der vom Kl. vorgelegten Quittung von ausschlaggebender Bedeutung, dass es sich um eine Bankquittung handelt. Nach der Lebenserfahrung kann davon ausgegangen werden, dass die Bestätigung eines Kreditinstitutes, einen bestimmten Geldbetrag empfangen zu haben, richtig ist […]
Die Kreditinstitute als die wesentlichen Träger des Geldverkehrs, sind in hohem Maße für dessen Ordnungsmäßigkeit verantwortlich […] Dies alles rechtfertigt, der Bankquittung einen hohen Beweiswert beizulegen […] Dem Kunden, der bares Geld bei der Bank einzahlt, steht nämlich in der Regel kein anderes Beweismittel als die Bankbestätigung zur Verfügung.
Aus diesen Gründen kann der Beweiswert von Bankquittungen nur in Ausnahmefällen erschüttert werden […] Die Bank muss aber den Nachweis erbringen, dass der Empfang der qu...