Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 49
Voraussetzung für einen Anscheinsbeweis ist das Vorliegen eines typischen Geschehensablaufs bzw. eines Erfahrungssatzes, der zur Begründung der vollen richterlichen Überzeugung geeignet ist. Die den Anscheinsbeweis konstituierende Lebenserfahrung beruht mithin auf Erfahrungssätzen, aus vielen sinnesmäßig beobachteten gleichförmigen Einzeltatsachen abgeleiteten Allgemeinregeln, wonach nach oftmaliger Wiederholung gewisser Vorgänge ihre Wiederkehr auch in der Zukunft erwartet werden kann.
BGH NJW-RR 1988, 789, 790:
Zitat
Der Anscheinsbeweis ist bei typischen Geschehensabläufen anwendbar zum Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs und des Verschuldens. Er erlaubt es, in solchen Fällen aufgrund einer bestimmten Wirkung eine bestimmte Ursache und umgekehrt, sowie das Verschulden beteiligter Personen als bewiesen anzusehen. Er setzt jedoch voraus, dass ein Tatbestand feststeht, bei dem der behauptete ursächliche Zusammenhang oder das behauptete Verschulden typischerweise gegeben ist, beruht also auf der Auswertung von Wahrscheinlichkeiten, die aufgrund der Lebenserfahrung anzunehmen sind […]. Es muss sich also um ein Geschehen gehandelt haben, bei dem die Regeln des Lebens und der Erfahrung des Üblichen und Gewöhnlichen dem Richter die Überzeugung (§ 286 ZPO) vermitteln, dass auch in dem von ihm entschiedenen Fall der Ursachenverlauf so gewesen ist, wie in den vergleichbaren Fällen […]
Laumen wählt zur Illustration eines typischen Geschehensablaufs / Erfahrungssatzes folgenden Fall: "Eine Kundin rutscht in einem Lebensmittelmarkt aus und verletzt sich dabei schwer. In dem unmittelbaren Bereich, in dem sie hingefallen ist, lag ein Salatblatt herum. Eine Zeugin hat nach dem Unfall beobachtet, dass dieses Salatblatt zertreten war." Hier spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Kundin auf dem Salatblatt ausgerutscht ist. Abstrakter formuliert lässt sich der typische Geschehensablauf so formulieren: Wenn sich der Sturz einer Person (Kundin) in unmittelbarer Nähe einer Gefahrenquelle (zertretenes Salatblatt) ereignet, kann typischerweise davon ausgegangen werden, dass der Sturz auf diese Gefahrenquelle zurückzuführen ist.
BGH NJW 2010, 1072 ff.:
Zitat
Dieser Schluss setzt einen typischen Geschehensablauf voraus. Typizität bedeutet in diesem Zusammenhang allerdings nur, dass der Kausalverlauf so häufig vorkommen muss, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist.
Rz. 50
Kommen für den eingetretenen Schaden zwei unabhängig voneinander denkbare typische Geschehensabläufe in Betracht (Beispiel: Sturz wegen unterlassenen Streuens oder unterlassenen Schneeräumens), so reicht es aus, dass einer dieser Anscheinstatbestände greift, soweit beide in Betracht kommenden Möglichkeiten eine Haftung des in Anspruch genommenen begründen. Führt jedoch nur einer der Geschehensabläufe zur Haftung der anderen Partei, so ist zu klären, welcher Fall eingreift.
BGH MDR 1954, 349:
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Kann ein Unfall durch zwei verschiedene Ursachen erklärt werden, die beide typische Geschehensabläufe sind, haftet der Beklagte aber nur für eine der möglichen Ursachen, so muß der Kläger nachweisen, daß gerade dieser Umstand ursächlich gewesen ist. Es kommt nicht darauf an, ob die eine oder die andere Möglichkeit nach den Erfahrungen des täglichen Lebens oder aus sonstigen Gründen eine größere Wahrscheinlichkeit für sich hat. In einem derartigen Fall kann weder der Beweis des ersten Anscheins noch § 287 ZPO zugunsten des Klägers angewendet werden.
Ähnlich auch das OLG Köln NZV 2005, 523:
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Wird der Verlust eines Bargeldbetrages, der in einem Pkw während einer Unfallfahrt mitgeführt worden war, erst mehrere Tage nach dem Unfall durch den Kfz-Fahrer nach zwischenzeitlichem Krankenhausaufenthalt entdeckt, so spricht kein Anscheinsbeweis dafür, dass der Geldbetrag bei dem Unfallgeschehen abhanden gekommen ist.