Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 54
Die Feststellung der Typizität erfolgt nicht aufgrund statistischer Erhebungen oder der Einholung von Sachverständigengutachten, sondern der Richter beruft sich auf seine eigene Lebenserfahrung. Die erstinstanzlichen Gerichte zeigen zumeist große Zurückhaltung darin, ihrer eigenen Lebenserfahrung Allgemeingültigkeit beizumessen, so dass es vornehmlich die Obergerichte sind, insbesondere der BGH, die Sätze des Anscheinsbeweises entwickeln.
Da mit den eingangs dargestellten Formeln wenig gewonnen ist, um zu beurteilen, ob dem konkreten Fall die erforderliche Typizität zukommt, hat sich eine ausufernde Kasuistik entwickelt, die eine Partei – insbesondere wenn sie in Beweisnot ist – darauf überprüfen muss, ob sich eine einschlägige Entscheidung findet.
Rz. 55
Der Anscheinsbeweis ändert nichts an der Darlegungs- und Beweislast. Er erleichtert dem Darlegungspflichtigen nur den Sachvortrag, weil er sich darauf beschränken kann, einen Sachverhalt vorzutragen, der einen typischen Geschehensablauf darstellt. Auch wenn der Sachverhalt vom Gegner bestritten wird, ist der Nachweis der anspruchsbegründenden Tatsachen geführt, sofern nur der typische Geschehensablauf unstreitig oder bewiesen ist. Der Anscheinsbeweis führt mithin dazu, dass die beweisbelastete Partei keine Einzelheiten des Kausalverlaufs darlegen muss. Der konkrete Geschehensablauf muss gerade nicht festgestellt werden.
BGH NJW 2010, 1072, 1073:
Zitat
Die Funktion dieser Beweiserleichterung, den Anspruchsteller vom Vortrag konkreter – ihm zumeist unbekannter – Einzelheiten des Kausalverlaufs zu entlasten, würde nicht unbeträchtlich entwertet, wenn dem Anspruchsteller abverlangt würde, als Teil des typischen Lebenssachverhalts vorzutragen und zu beweisen, dass bestimmte Einzelheiten, welche die Gegenseite zum Kausalverlauf vorträgt, unrichtig seien. Der Anscheinsbeweis unterscheidet sich von Feststellungen nach allgemeinen Beweisregeln gerade dadurch, dass der konkrete Geschehensablauf nicht festgestellt zu werden braucht, weil von einem typischen Hergang ausgegangen werden kann, solange nicht von dem Gegner Tatsachen bewiesen werden, die den Anschein entkräften.
Der Anscheinsbeweis ist aber nur "vorläufiger" Beweis. Der Beweisgegner kann seine Wirkung zu Fall bringen, indem er einen Sachverhalt vorträgt und im Bestreitensfalle beweist, der einen abweichenden Geschehensablauf ernsthaft in Betracht ziehen lässt.
Rz. 56
Der Gegner braucht keinen Gegenbeweis zu führen, sondern den Anscheinsbeweis lediglich zu erschüttern. Der Anscheinsbeweis ist erschüttert, wenn der Gegner Tatsachen vorträgt und beweist, die geeignet sind, dem Geschehensablauf das Typische zu nehmen; der Erfahrungssatz begründet dann eben nicht mehr die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung hat oder umgekehrt.
BGH NJW-RR 1986, 323:
Zitat
Der Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn der Versicherungsnehmer Umstände nachweist, aus denen sich die reale Möglichkeit eines abweichenden Geschehensverlaufs ergibt.
[…] Er ist demnach schon dann entkräftet, wenn der Gegner der beweisbelasteten Partei Umstände nachweist, aus denen sich die ernsthafte ("reale") Möglichkeit eines abweichenden Geschehensverlaufs ergibt […]
Rz. 57
Dass ein anderer Geschehensablauf denkmöglich ist, reicht zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht aus.
OLG Karlsruhe r+s 1993, 454:
Zitat
Allein die Möglichkeit, dass ein technischer Defekt die Unfallursache gewesen sein kann, reicht zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht aus.
OLG München NJW-RR 2014, 601, 602:
Zitat
Erschüttert ist der Anscheinsbeweis, wenn die ernsthafte (reale) Möglichkeit eines anderen, als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs besteht. Die Tatsachen, aus denen diese ernsthafte Möglichkeit hergeleitet wird, müssen unstreitig oder (voll) bewiesen sein. Zweifel gehen zulasten dessen, gegen den der Anscheinsbeweis streitet. Allein die Möglichkeit, dass ein technischer Defekt die Unfallursache gewesen sein kann, reicht zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht aus.
Ist der Anscheinsbeweis erschüttert, tritt wieder die übliche Beweisführungslast in Kraft.