Dr. iur. Christian Saueressig
1. Anscheinsbeweis im Straßenverkehr
Rz. 58
Der Anscheinsbeweis spielt insbesondere in zivilrechtlichen Auseinandersetzungen, die den Straßenverkehr betreffen, eine zentrale Rolle. Nachfolgend werden diverse Beispiele angegeben, um die voranstehenden abstrakteren Prinzipien zu veranschaulichen.
a) Abbiegen
Rz. 59
Stößt ein Linksabbieger mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammen, spricht der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Linksabbiegers. Stößt ein überholendes Fahrzeug mit einem Grundstücksabbieger zusammen, spricht ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Grundstücksabbiegers. Eine Alkoholisierung des Überholenden ist nur relevant, wenn ein Fahrfehler des Überholenden festzustellen ist. Nur in diesem Fall spricht – jedenfalls bei absoluter Fahruntüchtigkeit – ein Anscheinsbeweis dafür, dass die Alkoholisierung unfallursächlich war.
Bei einem Auffahrunfall eines nachfolgenden Fahrzeugs auf den Linksabbiegenden kann ein Anscheinsbeweis gegen den Abbiegenden nicht angenommen werden.
b) Abkommen von der Fahrbahn
Rz. 60
Der Beklagte ist mit seinem Pkw auf gerader Strecke von der Fahrbahn gekommen und hat dadurch einen schweren Unfall verursacht. Der Kläger, den der Beklagte aus Gefälligkeit mitgenommen hatte, ist bei dem Unfall so schwer verletzt worden, dass er sogleich das Bewusstsein verloren hatte und deshalb zu dem Unfallverlauf im Einzelnen nichts sagen kann. Mit seiner Klage begehrt er von dem Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld.
Der Kläger genügt seiner Darlegungs- und Substantiierungslast schon dann, wenn er zu dem Unfallverlauf nichts weiter vorträgt, als dass der Beklagte mit seinem Fahrzeug auf gerader Strecke von der Fahrbahn geraten ist und ihn dadurch verletzt hat.
Weil typischerweise ein solcher Unfall auf ein Verschulden des Fahrers zurückzuführen ist, gilt nicht nur ein Fahrfehler, sondern auch ein Verschulden des Beklagten als bewiesen.
Der Beklagte kann sich gegenüber dem Anspruch des Klägers nicht darauf berufen, er habe ihn lediglich aus Gefälligkeit mitgenommen, und es sei deshalb von einem stillschweigend vereinbarten Haftungsausschluss auszugehen. Ein solcher Haftungsausschluss wird zumindest für den Fall verneint, dass der Beklagte haftpflichtversichert ist.
Macht der Beklagte geltend, er sei nur deshalb von der Fahrbahn geraten, weil er einem Hasen habe ausweichen wollen, der unversehens vor ihm die Fahrbahn überquert habe, ist seine Einlassung unerheblich; denn es wird von einem Pkw-Fahrer verlangt, das Überfahren eines Hasen in Kauf zu nehmen, wenn sonst ein größerer Schaden droht. (Eine andere Frage ist, ob sein Verhalten im Verhältnis zur Kaskoversicherung als grob fahrlässig einzustufen ist.)
Beruft sich der Beklagte darauf, er sei nicht einem Hasen, sondern einem Rind (oder einem Fuchs) ausgewichen, könnte ihn dies entlasten. Der Kläger kann dieses Vorbringen aber gemäß § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen bestreiten. Um den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern, müsste der Beklagte dann beweisen, dass das Rind über die Straße gelaufen ist; wenn auch nicht exakt den Abstand zu dem sich nähernden Fahrzeug. Kein ausreichendes Indiz wäre es, dass an dieser Stelle häufiger Rinder auf der Straße laufen. Aber immerhin könnte sich das Gericht veranlasst sehen, den Beklagten zu seinem eigenen Vorbringen gemäß § 448 ZPO (vgl. Rdn 164) zu vernehmen.
Trägt der Beklagte vor, der Kläger sei betrunken gewesen und habe ihm deshalb plötzlich ins Steuer gegriffen, reicht der Nachweis der Trunkenheit allein nicht aus, um den Anscheinsbeweis zu erschüttern; wohl aber kommt bei nachgewiesener Trunkenheit auch hier eine Vernehmung des Beklagten nach § 448 ZPO zu seinem eigenen Vorbringen in Betracht.
c) Alkohol
Rz. 61
Bei absoluter alkoholbedingter Fahruntauglichkeit (1,1 ‰ Blutalkoholgehalt) spricht der Anschein für die Unfallursächlichkeit des Alkoholgenusses, wenn sich der Unfall unter Umständen zugetragen hat, die einem nüchternen Fahrer keine Schwierigkeiten bereitet hätten.
OLG Düsseldorf RuS 2008, 9:
Zitat
Bei absoluter Fahruntüchtigkeit spricht der erste Anschein dafür, dass der Unfall auf die Alkoholbeeinflussung zurückzuführen ist.
Nach dem BGH in VersR 1972, 292 spricht der Anscheinsbeweis für Alkoholursächlichkeit, wenn ein betrunkener Kraftfahrer eine Verkehrssituation nicht zu meistern weiß, die für einen nüchternen unproblematisch gewesen wäre.
OLG Köln VersR 1983, 293:
Zitat
Nach dem ersten Anschein ist eine Fehlleistung des Fahrzeugführers bei einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,14 Promille vor allem dann auf den Alkohol zurückzuführen, wenn andere Fahrer die Verkehrssituation gemeistert haben.
Ansonsten kann die a...