Rz. 19
Umstritten ist in Deutschland weiterhin, ob sich die Rechtsprechung des BGH zum ordre public-Vorbehalt im internationalen Pflichtteilsrecht durch die Entscheidung des BVerfG vom 19.4.2005 zum Pflichtteilsrecht ändern muss. Teilweise wird die Ansicht vertreten, ein Pflichtteil der Kinder sei nun auch bei ausländischem Erbstatut bei ausreichender Inlandsberührung des Falls durch den ordre public garantiert. Das ist allerdings schon deswegen zweifelhaft, weil das BVerfG den verfassungsrechtlichen Schutz im Wesentlichen auf eine Institutsgarantie beschränkt und mit den historischen Wurzeln des deutschen Rechts begründet hat. Es ist allgemein anerkannt, dass nicht jeder Verfassungsverstoß auch schon einen Eingriff über den ordre public verlangt. In einem praktischen Anwendungsfall könnten die Gerichte kaum feststellen, ab welcher Schwelle die verfassungsrechtliche Garantie des Pflichtteils – die selbst schon nicht beziffert werden kann – so weit unterschritten ist, dass auch die Latte des ordre public gerissen wird.
Rz. 20
Durch die "Europäisierung" des ordre public freilich droht auf diesem Gebiet eine juristische Debatte mit noch ungewissem Ausgang. Einerseits zeigte sich bei den Gesetzgebungsarbeiten für die EUErbVO, dass wohl im Pflichtteilsrecht die Sensibilität am stärksten ausgeprägt ist und z.B. Bedenken gegen weitergehende Rechtswahlmöglichkeiten mit der Befürchtung begründet wurden, dass durch weitgehende Rechtswahlmöglichkeiten das Pflichtteilsrecht ausgehöhlt werden könnte. Andererseits sind hier die Systeme innerhalb von Europa sehr unterschiedlich. In England und Irland beispielsweise wird nahezu ausschließlich der überlebende Ehegatte geschützt, Abkömmlinge können nur ausnahmsweise gegen sie benachteiligende Verfügungen vorgehen. In Frankreich und Belgien hingegen sind in der Kleinfamilie ausschließlich die Abkömmlinge pflichtteilsberechtigt und der überlebende Ehegatte geht u.U. erbrechtlich leer aus. Fraglich ist nun, ob das Gericht eines Mitgliedstaates gegen ein fehlendes Pflichtteilsrecht des Ehegatten nach einem ausländischen Recht einwenden kann, dieses "sei so anstößig und stünde mit den deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch, dass es untragbar erscheint", wenn eine vergleichbare Regelung in einem anderen europäischen Nachbarstaat communis opinio und gesetzliche Regelung ist.
Rz. 21
Auf diese Problematik weist EG 58 S. 2 EuErbVO hin: Die Gerichte oder andere zuständige Behörden sollten die Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates nicht ausschließen oder die Anerkennung und die Annahme sowie die Vollstreckung einer Entscheidung, einer öffentlichen Urkunde oder eines gerichtlichen Vergleichs aus einem anderen Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Ordnung (ordre public) nicht versagen dürfen, wenn dies gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 21, verstoßen würde. Wurmnest weist darauf hin, dass aufgrund dieser Klausel z.B. ein Staat, der die gleichgeschlechtliche Ehe oder das gesetzliche Erbrecht einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nicht kennt, gehindert sei, unter Berufung auf seinen nationalen ordre public (und unter Verletzung des sich aus Art. 21 der Grundrechtscharta der EU ergebenden Diskriminierungsverbots) ein gesetzliches Erbrecht nach einem ausländischen Recht zu versagen.
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Im Beispiel ist der Ausschluss der engsten Angehörigen von der gesetzlichen Erbfolge aufgrund der Religionsverschiedenheit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts (Art. 3 Abs. 2 GG) unvereinbar. Das Gleiche gilt für ausschließlich auf dem Geschlecht beruhende ungleiche Erbquoten von Brüdern und Schwestern im oben genannten Fall (siehe Rdn 12). Das OLG Hamm hat in seiner Entscheidung dagegen darauf verwiesen, dass eine entsprechende letztwillige Verfügung des Erblassers anzuerkennen sei. Dieses Argument dürfte aber nicht zulässig sein. |
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Mit Art. 6 Abs. 5 GG kollidieren Vorschriften, die pauschal ein geringeres Erbrecht für uneheliche Abkömmlinge, Ehebruchskinder, inzestuös gezeugte Kinder etc. vorsehen. Besteht die Diskriminierung nicht in einer quantitativen, sondern lediglich in einer qualitativen Zurücksetzung, die die Durchsetzung nicht erschwert – etwa indem diese Kinder einen wirtschaftlich gleichwertigen Geldanspruch gegen den Nachlass erhalten anstelle der ehelichen Abkömmlingen vorbehaltenen Erbenstellung –, liegt zwar ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 GG vor, der aber u.U. noch "ertragbar" ist. Es wäre also ein intensiverer Inlandsbezug erforderlich. |
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Auch die Versagung einer gesetzlichen Erbbeteiligung aufgrund einer aus deutscher Sicht wirksam begründeten eingetragenen Lebenspartnerschaft oder gleichgeschlechtlichen Ehe muss unter Rückgriff auf den internationalen ordre public korrigiert werden. Dies gilt umso mehr, als in Deutschland mit der Umsetzung der EuErbVO der einschlägige Art. 17b Abs. 1 S. 2 EGBGBG a.F. gestrichen worden ist. |
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