1. Prüfungsmaßstab
Rz. 13
Zum Bestand des nationalen Rechts gehören nicht nur die nationalen Normen, sondern auch die im Inland anzuwendenden Regelungen des europäischen Rechts, vor allem des AEUV und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Es ist zu erwarten, dass dem EuGH diese Regeln besonders nahe liegen und er daher bei Berufung auf diese Regeln am ehesten einen Verstoß gegen den nationalen ordre public anerkennen wird. Insoweit könnte sich trotz Bezugnahme des Art. 35 EuErbVO auf das nationale Recht voraussichtlich doch ein "europäischer" ordre public herausbilden.
Rz. 14
Das Ergebnis der Rechtsanwendung muss mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar sein. Es genügt somit nicht, dass das Ergebnis nach deutschem Recht anders oder entgegengesetzt lauten würde. Das Ergebnis muss vielmehr "so anstößig sein und mit den deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch stehen, dass es untragbar erscheint". Das ist noch nicht der Fall, wenn der Umfang der Pflichtteile größer oder der Kreis der Pflichtteilsberechtigten weiter als im deutschen Recht ist und z.B. nichteheliche Lebensgefährten umfasst. Das Gleiche gilt dann, wenn Pflichtteile nicht als Geldzahlungsansprüche ausgestaltet sind, sondern als dingliche Beteiligung am Nachlass, als Nießbrauch oder als Beschränkung der Testierfreiheit auf einen Bruchteil des Nachlasses. Auch niedrigere oder gar vollständige fehlende Pflichtteile zugunsten naher Angehöriger wurden von der Rechtsprechung früher hingenommen. Nach dem Schrifttum sollte dies zumindest solange gelten, wie der Angehörige hierdurch nicht zum Sozialfall wird. Nachdem freilich der BGH die Ansicht vertreten hat, dass der deutsche ordre public das "bedarfsunabhängige" Pflichtteil schütze, also auch gerade die Angehörigen, die schon selber genug Vermögen haben und auf Zuwendungen aus dem Nachlass nicht angewiesen sind, dürfte dieses Argument nicht mehr länger einschlägig sein.
Rz. 15
In eine entgegengesetzte Richtung zielen die beiden Entscheidungen der französischen Cour de Cassation vom 27.9.2017 in den Nachlasssachen Michel Colombier und Maurice Jarre:
Rz. 16
Sachverhalt:
Der Filmkomponist Michel Colombier war französischer Staatsangehöriger und 1939 in Lyon geboren worden. Im Dezember 2004 verstarb er mit letztem Wohnsitz in Santa Monica, Kalifornien. Er hinterließ einen Sohn aus erster Ehe, zwei Kinder aus zweiter Ehe, eine Tochter aus einer sonstigen Beziehung und schließlich seine aus Ostasien stammende dritte Ehefrau mit zwei minderjährigen Kindern.
Colombier besaß ein umfangreiches Vermögen, bestehend aus US-amerikanischen Immobilien, den Urheberrechten an seinem Musikschaffen und Bankguthaben, teilweise in den USA und teilweise in Frankreich belegen. Das Vermögen hatte er durch 1999 errichtete testamentarische Verfügung in einen Family Trust eingebracht, den er mit seiner Ehefrau errichtet hatte und dessen Regelungen vorsahen, dass der Überlebende der beiden Ehegatten alleiniger Begünstigter des gesamten Vermögens werden solle. Nach dem Tod des Überlebenden solle das Vermögen den beiden gemeinsamen Kindern zukommen.
Da der Erblasser seinen letzten Wohnsitz i.S.d. französischen Rechts in Kalifornien hatte und auch sein Immobilienvermögen in den USA belegen war, war im vorliegenden Fall nach den bis zum Anwendungsstichtag der EuErbVO geltenden autonomen französischen Kollisionsnormen das kalifornische Erbrecht anwendbar, welches für erwachsene Abkömmlinge keine Pflichtteilsrechte vorsieht. Die in Frankreich lebenden drei Kinder des Erblassers aus seinen ersten beiden Ehen verklagten im Jahre 2006 die Witwe dennoch vor dem Tribunal de Grande Instance (Landgericht) in Paris. Sie beriefen sich dabei zunächst auf ein Gesetz vom 14.7.1819, wonach die in Frankreich lebenden Hinterbliebenen aus dem in Frankreich belegenen Nachlass so viel beanspruchen können, wie ihnen bei Anwendbarkeit französischen Erbrechts auf den gesamten Nachlass zukäme – und zwar auch dann, wenn aus französischer Sicht der Nachlass zumindest bezüglich eines Teils einem ausländischen Erbrecht unterliegt. Das Tribunal de Grande Instance freilich legte die Sache der Cour de Cassation vor, die den Fall an den Conseil Constitutionel – dem französischen Verfassungsgerichtshof – weiterreichte. Der Conseil Constitutionel nahm an, das Gesetz von 1819 verstoße gegen die Menschenrechtsdeklaration von 1789 und erklärte das Gesetz von 1819 für unwirksam.
In einem zweiten Anlauf machten die Kläger geltend, das Pflichtteilsrecht bilde einen Teil des französischen ordre public international. Die Anwendung kalifornischen Erbrechts erlaube im vorliegenden Fall, dass sich der französische Erblasser dem französischen Pflichtteilsrecht entziehen könne. Auch den ordre public-Einwand wies aber die Cour de Cassation zurück. Dabei berief sie sich nicht allein auf die Erbrechtsreform 2006, mit der die Position des Pflichtteilsberechtigten eingeschränkt worden sei. Im Pflicht...