Dr. Susanne Creutzig, Prof. Dr. Jürgen Creutzig
Rz. 157
Weitere und zugleich wichtigste Voraussetzung des § 89b HGB ist die Werbung neuer Kunden bzw. die Erweiterung bestehender Geschäftsverbindungen durch den HV. Ein Kunde ist immer dann geworben, wenn es zwischen dem Unternehmer und dem Dritten durch Vermittlung des HV bzw. eines Angestellten oder Untervertreters des HV zu einem Geschäftsabschluss gekommen ist.
Rz. 158
I.R.d. Ausgleichsanspruchs werden Neukunden berücksichtigt, wobei es darauf ankommt, ob der Kunde bei dem Unternehmer vor der Tätigkeit des HV den betreffenden Artikel schon einmal gekauft hat. Damit sind solche Kunden i.R.d. § 89b HGB zu berücksichtigen, die vor dem Abschluss des Handelsvertretervertrages nicht in geschäftlichen Beziehungen der geworbenen Art zum Unternehmer standen. Der HV muss den Neukunden geworben haben, d.h. er muss entsprechend der Definition des HV (s.o. unter Rdn 1 ff.) eine Vermittlungs- bzw. Abschlusstätigkeit vorgenommen haben, die jedenfalls mitursächlich für den Abschluss des Geschäfts war. Als neue Kunden sind auch anzusehen, wenn sie bereits wegen anderer Waren Geschäftsverbindungen mit dem Unternehmer unterhalten, sofern der Verkauf der erstgenannten Waren durch diesen HV die Begründung einer speziellen Geschäftsverbindung in Gestalt zusätzlicher Vermittlungsbemühungen und ggf. einer besonderen Verkaufsstrategie erfordert hat. Der Neukundenbegriff wird in diesen Fällen nicht am Kunden festgemacht, sondern muss anhand der Ware erfolgen, die der HV vermittelt hat. In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, ob zusätzliche Bemühungen des Unternehmers zu dem Abschluss des Geschäfts geführt haben. Der mitursächliche Beitrag des HV ist insofern ausreichend. Die Darlegungs- und Beweislast für die Kundenwerbung liegt beim HV, d.h. er muss im Prozess den Umstand darlegen und beweisen, dass die in seiner Ausgleichsberechnung einbezogenen Kunden dem Unternehmer während des Bestehens des Vertragsverhältnisses neu zugeführt wurden.
Rz. 159
Eine Ausgleichsverpflichtung des Unternehmers besteht auch, wenn der HV die Geschäftsbeziehungen zu den Kunden so wesentlich erweitert, dass dies wirtschaftlich der Werbung eines Neukunden entspricht (erweiterte Altkundenbeziehungen). Voraussetzung dafür ist, dass sich der Warenumsatz mit dem entsprechenden Kunden erhöht, wobei die bisherige h.M. – mengenmäßige Verdoppelung – überholt ist: Im Einklang mit der HV-Richtlinie 86/653/EWG sind Umsatzsteigerungen unter 100 % ausreichend.
Rz. 160
§ 89b Abs. 1 Nr. 1 HGB setzt voraus, dass mit den vom HV neu geworbenen Kunden Geschäftsverbindungen bestehen, aus denen der Unternehmer nach Beendigung des Vertragsverhältnisses erhebliche Vorteile zieht, z.B. in Form einer Aussicht auf weitere Geschäftsabschlüsse in Form von Neubestellungen in einem überschaubaren Zeitraum. Zweifelhaft ist, ob derartige Geschäftsbeziehungen aber bei Neukunden überhaupt bestehen müssen. Denn § 89b Abs. 1 Nr. 1 HGB ist im Lichte des Art. 17 Abs. 2 lit. a Spiegelstrich 1 HV-Richtlinie 86/653/EWG auszulegen. Danach müssen indes nur im Zusammenhang mit der Intensivierung von Altkunden Geschäftsbeziehungen bestehen. Geschäftsverbindungen bestehen nicht mit Laufkunden, sondern mit Stammkunden bzw. Mehrfachkunden. Die Eigenschaft eines Stamm- bzw. Mehrfachkunden hängt vom Gegenstand des Geschäfts und den branchenüblichen Besonderheiten ab. Er kann generell als ein Kunde bezeichnet werden, der in einem überschaubaren Zeitraum, in dem üblicherweise mit Nachbestellungen zu rechnen ist, mehr als nur einmal ein Geschäft mit dem Unternehmer abgeschlossen hat oder voraussichtlich abschließen wird. Ob solche Folgebestellungen zu erwarten sind, wird mittels einer Prognose bei Vertragsende nach den gewöhnlichen Umständen geprüft. Dabei kommt es v.a. auf das Produkt an; unterschiedliche Produkte haben i.d.R. unterschiedliche Bestellintervalle. Im Zweifel sollten branchenspezifische Statistiken nach § 287 ZPO herangezogen werden.
Rz. 161
Auch potenzielle Mehrfachkunden begründen eine Ausgleichspflicht. Voraussetzung dafür ist, dass aufgrund der Gegebenheiten während des Vertragsverhältnisses hinreichend sichere und auf den Einzelfall bezogene konkrete Anhaltspunkte für Folgegeschäfte innerhalb eines überschaubaren Zeitraums bestehen.
Rz. 162
Bei der Berechnung des Ausgleichsanspruchs des Tankstellen-HV ist die Basis der Teil der letzten Jahresprovision, den der HV für Umsätze mit von ihm geworbenen Stammkunden erhalten hat. Im Tankstellengeschäft sind Stammkunden solche Kunden, die mindestens viermal im Jahr bei der gleichen Tankstelle getankt haben, unabhängig davon, wie sich die Tankvorgänge auf die Quartale verteilen. Als Beleg für die Ermittlung dieser Stammkunden sind Belege über Zahlungsvorgänge mit Kreditkarten oder vergleichbaren Karten geeignet. Damit lässt sich der Umsatzanteil der Stammkunden am Gesamtumsatz der Kartenkundschaft ermitteln. Das ist ausreichend für eine Schätzung nach § 287 ZPO dieses Umsatza...