Rz. 110
Richtet sich der Pflichtteilsanspruch des Minderjährigen gegen einen Verwandten des gesetzlichen Vertreters in gerader Linie als Erben oder richtet er sich gegen den Ehegatten des gesetzlichen Vertreters, so kann der gesetzliche Vertreter des Minderjährigen dessen Pflichtteilsanspruch geltend machen. Zwar untersagen §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 1 Nr. 1 BGB grundsätzlich ein Rechtsgeschäft zwischen dem vertretenen Minderjährigen und einem Verwandten der Eltern in gerader Linie (Kinder sind in gerader Linie mit jedem Elternteil verwandt) oder seinem Ehegatten. Aber §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 1 Nr. 1 a.E. BGB gestatten Erfüllungsgeschäfte.
Beispiel 1
Der Großvater hat seine Lebensgefährtin zur Alleinerbin eingesetzt. Damit hat er die Tochter seines vorverstorbenen Sohnes, seine Enkelin, enterbt. Die Mutter der Enkelin ist die Tochter der Alleinerbin.
Die Mutter überlegt, ob sie für die Enkelin, ihre Tochter, von der Lebensgefährtin des Erblassers, ihrer Mutter, den Pflichtteil verlangen kann.
Die Lebensgefährtin ist die Verwandte der Mutter in gerader Linie. Nach dem Wortlaut des § 1795 Abs. 1 Nr. 1 1. Hs. BGB ist sie von der Vertretung ihres Kindes gegenüber dieser Verwandten ausgeschlossen. Da es sich bei der Bezahlung des Pflichtteils um ein Erfüllungsgeschäft handelt, stehen §§ 1629, 1795 Abs. 1 Nr. 1 BGB aber dem Erfüllungsgeschäft nicht entgegen.
Rz. 111
Die Verjährung des Pflichtteilsanspruchs der Enkelin gegen die Mutter seiner Mutter (die Lebensgefährtin des Erblassers) ist nicht nach § 207 BGB gehemmt. Die Anwendung von § 210 BGB setzt voraus, dass der Geschäftsbeschränkte ohne gesetzlichen Vertreter ist. Nach § 1795 Abs. 1 Nr. 1 kann die Mutter ihr Kind nicht gegen ihre Mutter (die Erbin) vertreten, so dass die Ablaufhemmung gemäß § 210 BGB nicht vor dem Ablauf von 6 Monaten nach Erreichen der Volljährigkeit, mit 18 Jahren, endet.
Rz. 112
Beispiel 2
Die Mutter des geschäftsbeschränkten Kindes K hat nach dem Tod ihres Ehemannes, des Vaters des Kindes, wieder geheiratet. Die Großmutter auf der mütterlichen Seite des Kindes, die Erblasserin, hat den (neuen) Ehemann der Mutter zum Alleinerben bestimmt. Andere Verwandte als ihre Tochter, die Mutter des Kindes, und ihren Enkel, hat die Großmutter nicht. Der Großvater ist vorverstorben.
Nach dem Wortlaut des § 1795 Abs. 1 Nr. 1 1. Hs. BGB ist die Mutter von der Vertretung ihres Kindes gegenüber ihrem Ehemann ausgeschlossen. Aber Satz 1 am Ende nimmt die Anwendung des Vertretungsverbotes von dem Verbot des Geschäfts mit dem Ehemann des gesetzlichen Vertreters bei der Erfüllung einer Verbindlichkeit aus. Der Mutter kann für das Kind dessen Pflichtteilsanspruch von ihrem Ehemann verlangen und die Erfüllung des Anspruchs entgegennehmen.
Rz. 113
Der Pflichtteilsanspruch verjährt gemäß § 195 BGB in drei Jahren. Die Frist beginnt mit dem Ende des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Pflichtteilsberechtigte von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen (§ 199 BGB).
Die Hemmung der Verjährung gemäß § 207 Abs. 1 Nr. 2b BGB erstreckt sich im Beispiel 2 bis zum vollendeten 21. Lebensjahr, weil der Pflichtteilsanspruch sich gegen Ehegatten der Mutter richtet.
Beispiel 3
Der Erblasser hat seine Ehefrau und seine minderjährige Tochter enterbt und seinen minderjährigen Sohn zum Alleinerben bestimmt.
Beispiel 4
Wie wäre es, wenn der Sohn bereits volljährig wäre?
Lösung Beispiel 3: Hinsichtlich der Pflichtteilsansprüche eines minderjährigen Kindes gegen die (anderen) minderjährigen Kinder des gesetzlichen Vertreters, also gegen seine minderjährige (Halb-)Geschwister, wie im Beispiel 3, gibt es nach der Änderung des § 207 Abs. 1 Nr. 2 BGB im Jahr 2010 keine Hemmung der Verjährung nach dieser Vorschrift mehr. Es greifen aber §§ 181, 210 BGB ein: Hinsichtlich der Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs ist die Tochter ohne gesetzlichen Vertreter, da die Mutter sowohl den Sohn wie auch die Tochter gesetzlich vertritt und § 181 BGB die Mehrfachvertretung untersagt. Der Ablauf der Verjährungsfrist ist bis 6 Monate nach Erreichen der Volljährigkeit der Tochter – nicht bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres wie nach § 207 BGB – oder dem Zeitpunkt, in dem der Mangel der Vertretung behoben wird (z.B. durch Bestellung eines Ergänzungspflegers für die Tochter) gehemmt. Die Erfüllung des Anspruchs kann sie freilich nach dieser Vorschrift entgegennehmen.
Lösung Beispiel 4: Der Sohn und Alleinerbe ist volljährig. Der Anspruch der minderjährigen Tochter richtet sich gegen sein volljähriges Geschwister, den Sohn. § 207 BGB greift nicht ein, weil der Anspruch zwischen Geschwistern nicht erwähnt ist. § 210 BGB setzt voraus, dass der Geschäftsbeschränkte nicht gesetzlich vertreten ist. Die minderjährige Tochter wird durch ihre Mutter gesetzlich vertreten, der volljährige Sohn wird nicht mehr von ihr vertreten, so dass das Verbot der Mehrfachvertretung des § 181 BGB nicht eingreift. §§ 16...