Rz. 119
Die hypothetische Betrachtung, ob der Kläger bei sachgemäßer anwaltlicher Vertretung den Ausgangsprozess gewonnen hätte, betrifft nicht nur Rechtsfragen, sondern v.a. Tatsachenfeststellungen. Dabei ist von dem Sachverhalt auszugehen, der dem Gericht bei sachgemäßem Vorgehen des Anwalts unterbreitet worden wäre.
Rz. 120
Die Feststellung, wie der Prozess richtigerweise hätte entschieden werden müssen, ist nach § 287 ZPO zu treffen, weil es sich um ein Element der haftungsausfüllenden Kausalität handelt. In Abkehr von einem früheren Urteil hat der BGH entschieden, dass diese Grundsätze auch dann zur Anwendung kommen, wenn im Ausgangsprozess oder dem behördlichen Verfahren die Amtsermittlungsmaxime galt. Diese dient allein dem öffentlichen Interesse daran, den wahren Sachverhalt zur Geltung zu bringen. Sie liefert jedoch keinen Grund dafür, auch im Regressprozess die Beweisanforderungen zu erhöhen. Hier ist die Partei vielmehr wie jeder andere Mandant zu behandeln, welcher behauptet, durch Fehler seines Anwalts geschädigt worden zu sein. Die Ausrichtung an § 287 ZPO entspricht auch den Beweismaßstäben, die die Rechtsprechung bei vergleichbarer Problematik in Amtshaftungsprozessen anwendet.
Rz. 121
Dass damit zugleich der Umfang der Beweisaufnahme in sinnvoller Weise gestrafft wird, zeigt folgendes Beispiel:
Beispiel
Die Zwillinge Albert und Anton hatten den Kläger auf Feststellung der Vaterschaft in Anspruch genommen. Das AG hatte ein serologisches Gutachten eingeholt, welches zu einer Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 99,993 % gelangte. Das AG traf daraufhin die begehrte Feststellung. Der Kläger beauftragte den beklagten Anwalt, Berufung einzulegen. Er wollte einen Zeugen dafür benennen, dass die Mutter in der Empfängniszeit mit einem weiteren Mann geschlechtlich verkehrt hatte, und die Einholung eines erbbiologischen Gutachtens beantragen. Der Anwalt legte Berufung ein, jedoch beim LG statt beim OLG. Nunmehr verklagte der Vater den Anwalt und machte geltend – unter Berufung auf die damaligen Beweisanträge –, die Klage der Kinder wäre bei Durchführung der Berufung abgewiesen worden.
Nach der Rechtsprechung hätten im Ausgangsverfahren, in dem das Amtsermittlungsprinzip galt und der wirkliche Vater ermittelt werden sollte, die beantragten Beweise erhoben werden müssen. Im Regressprozess durfte das Gericht davon absehen, weil ohne Beweisaufnahme mit der von § 287 ZPO geforderten Wahrscheinlichkeit anzunehmen war, dass die Berufung keinen Erfolg gehabt hätte.
Rz. 122
Auf der Grundlage des § 287 ZPO ist davon auszugehen, dass der Gegner des Vorprozesses nach dem Hinweis durch seinen Bevollmächtigten, dass ein ihm günstiger Gesichtspunkt möglicherweise nicht durchgreife, sämtliche weiteren ihm eröffneten rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten zur Durchsetzung seiner Rechtsposition vorgetragen und die dafür zur Verfügung stehenden Beweismittel benannt hätte. Daher kann sich der Anwalt im Regressprozess auch auf Umstände stützen, die im Vorprozess überhaupt nicht zur Sprache kamen und für diese Punkte, falls notwendig, Beweis antreten.
Rz. 123
Weiter stellt sich die Frage, wie mit Beweismitteln umzugehen ist, die nicht im Vorprozess zur Verfügung standen, wohl aber im Haftungsprozess. Da es nicht darauf ankommt, wie die Entscheidung tatsächlich gelautet hätte, sondern vielmehr, wie sie richtigerweise hätte ergehen müssen, der materiellen Gerechtigkeit also Vorrang gebührt vor der tatsächlichen Kausalität, sind diese neuen Beweismittel zu berücksichtigen. Deshalb steht der Gegner des Vorprozesses als Zeuge zur Verfügung, ebenso auch jedes weitere nunmehr erst benutzbare Beweismittel.
Rz. 124
Geht es um die Feststellung von Tatsachen, zu deren Klärung die Beauftragung eines oder mehrerer Sachverständigen notwendig ist, so darf der Richter im Haftungsprozess vorliegende Beweisergebnisse grds. nicht deshalb außer Betracht lassen, weil der Vorprozess verfahrensfehlerfrei hätte abgeschlossen werden können, ohne zu diesen Erkenntnissen zu gelangen. Der reale Kenntnisstand kann nicht zugunsten einer mit Unsicherheiten behafteten hypothetischen Betrachtung vernachlässigt werden. Beruht die tatsächliche Würdigung des Regressrichters jedoch auf Erkenntnissen, die selbst bei pflichtgemäßem Handeln der im Vorprozess aufgetretenen Rechtsanwälte und sachgerechtem Verfahren des mit diesem Prozess befassten Gerichts keinesfalls zur Verfügung gestanden hätten, dürfen diese im Regressprozess nicht berücksichtigt werden. Anderenfalls käme der Mandant aufgrund des Anwaltsfehlers im Wege des Schadensersatzes in den Genuss eines Vorteils, den er ohne jenen Fehler unter keinen Umständen hätte erlangen können. Dies wäre mit dem Schutzzweck der verletzten Norm nicht zu vereinbaren; denn die Pflicht, sachgerecht, vollständig und rechtzeitig vorzutragen sowie Beweismittel zu benennen, dient nicht der Abwendung von Nachteilen, die durch die Wahrnehmung jener Pflichten nicht beeinflusst werden...